Kinder- und Jugendhilfe. Joachim Merchel
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2 Kinder- und Jugendhilfe heute – Selbstverständnis und konzeptionelle Leitorientierungen
Das erste Kapitel hat die geschichtlichen Entwicklungslinien nachvollziehbar gemacht, vor denen sich die heutige Kinder- und Jugendhilfe herausgebildet hat. Daraus ergeben sich Fragen nach den konzeptionellen normativen und fachlichen Grundlagen der heutigen Kinder- und Jugendhilfe: Wie lässt sich das Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe charakterisieren? An welchen konzeptionellen Leitbegriffen orientieren sich die Akteure und welche Leitbegriffe werden als Klammer für handlungsfeldbezogene Konzepte zugrunde gelegt. Existiert ein konzeptioneller, von den Akteuren weitgehend akzeptierter Rahmen, der die Unterschiedlichkeit der Arbeitsfelder und Methoden in zumindest lockerer Form miteinander verbindet und so etwas wie eine gemeinsame Verständigung über das Rahmenprofil der Kinder- und Jugendhilfe ermöglicht? Anregungen für die Erörterung solcher Fragen sollen in diesem zweiten Kapitel skizziert werden.
In einem ersten Block (
2.1 Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe – zwischen Infrastrukturleistung, Ansprüchen auf Hilfe und Schutzauftrag für Kinder und Jugendliche
Zentrale Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe sind in § 1 SGB VIII genannt. Neben dem universalen Recht von Kindern und Jugendlichen auf eine Erziehung zu »einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« (Abs. 1) ist hier der viergliedrige Auftrag aus Absatz 3 hervorzuheben:
§ 1 Abs. 3 SGB VIII
Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,
3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,
4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.
Die hier formulierte Zielbestimmung erscheint auf den ersten Blick als ein Konglomerat unterschiedlicher Erwartungen auf unterschiedlichen Ebenen. Hier steht die Verpflichtung, Angebote der Beratung und Unterstützung von Eltern bei ihrer Aufgabe der Erziehung ihrer Kinder bereitzustellen, neben einem als eigenständig erscheinenden Auftrag zur Förderung von jungen Menschen und zur Vermeidung bzw. zum Abbau individueller Benachteiligungen. Dies wird wiederum kontrastiert mit dem Auftrag der Gefahrenabwehr bei einer Gefährdung des Kindeswohls in- und außerhalb der Familie – ggf. auch gegen den Willen der Eltern. Ergänzt wird dies noch durch einen übergreifenden gesellschaftspolitischen Auftrag, für positive Lebensbedingungen für junge Menschen und für eine familienfreundliche Umwelt einzutreten.
In dieser zunächst unsortiert und manchmal widersprüchlich erscheinenden Zielbestimmung werden bereits erhebliche Spannungsfelder erkennbar:
• Ansatzpunkt bei den jungen Menschen, bei ihren Eltern, bei den gesellschaftlichen Verhältnissen;
• Aufträge zwischen Förderung, Beratung und Unterstützung junger Menschen und Familien auf der einen Seite und der Abwehr von Gefahren für das Kindeswohl auf der anderen Seite;
• Interventionsstrategien, die auf das Verhalten von Menschen gerichtet sind, auf der einen Seite, und Strategien, die auf die Beeinflussung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet sind, auf der anderen Seite.
In dieser Breite offenbart sich jedoch ein umfassender Auftrag, der unter dem Etikett »Einheit der Jugendhilfe« sogar als ›Markenkern‹ der Kinder- und Jugendhilfe artikuliert wird: Jugendhilfe mit ihrer Breite der Handlungsfelder und Methoden wird als der Versuch verstanden, auf vielfältige Lebensbewältigungsanforderungen von Eltern und ihren Kindern durch die Bereitstellung einer fördernden, helfenden und schützenden Infrastruktur zu reagieren. Ihre gesamten Aktivitäten sind eingebettet in einen umfassenden Auftrag der politischen Interessenwahrnehmung, der gesellschaftlichen Einflussnahme und der Infrastrukturgestaltung durch öffentliche und freie Träger (z. B. im Rahmen des Jugendhilfeausschusses durch eine offensive Jugendhilfeplanung).
Je komplexer gesellschaftliche Anforderungen werden und je ungleicher die Teilhabechancen von Menschen in der modernen Gesellschaft verteilt sind, um so vielfältiger müssen die Angebotsstrukturen der Jugendhilfe ausgestaltet sein, um ihren Auftrag erfüllen zu können. Es geht um eine umfassende Verantwortung für die Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen seitens der Jugendhilfe, die sich inzwischen weit über die ursprünglichen Wurzeln der Sozialdisziplinierung (
Die im SGB VIII formulierten und dabei durch vielfältige Spannungsfelder gekennzeichneten objektiven Rechtsverpflichtungen und subjektiven Rechtsansprüche lassen sich als gesellschaftlicher Auftrag verstehen, für junge Menschen Bedingungen des Aufwachsens zu schaffen und weiterzuentwickeln, die ihnen eine optimale gesellschaftliche Teilhabe und optimale individuelle Verwirklichungschancen eröffnen. An diesem Auftrag kann die Kinder- und Jugendhilfe nicht ohne eine normative Basis arbeiten: Die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe