Kinder- und Jugendhilfe. Joachim Merchel
Grunwald, K./Thiersch, H. (Hrsg.) (2016): Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern, 3. Aufl., Weinheim und Basel: Beltz Juventa
Otto, H.-U./Ziegler, H. (Hrsg.) (2008): Capabilities – Handlungsfähigkeit und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft, Wiesbaden: Springer VS
3 Trägerstrukturen in der Kinder- und Jugendhilfe
Damit Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe zustande kommen und damit diese für die Eltern und für die jungen Menschen als ein einigermaßen transparentes und verlässliches Angebot präsentiert werden können, werden Organisationsgebilde benötigt, die in ihrer administrativ formalisierten Gestalt als »Träger« bezeichnet werden. »Träger« ist in der Sozialen Arbeit ein »Oberbegriff für Organisationen (…), die sich mit Sozialer Arbeit ideell fördernd, konzeptionell-entwickelnd, planend und vor allem ausführend und finanzierend befassen« (Bieker 2011, 13). Dabei sind die Adjektive »ausführend« und »finanzierend« entscheidend: Lediglich ideell fördernde Organisationen (z. B. Forschungsinstitute oder Fachverbände, die Fachdiskurse organisieren wie z. B. die Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe – AGJ – oder die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen e. V. – IGfH) stehen weniger im Blickfeld, wenn man von »Trägern der Kinder- und Jugendhilfe« spricht; diese können zwar als »Träger der freien Jugendhilfe« nach § 75 SGB VIII anerkannt werden, jedoch erbringen sie i. d. R. keine adressatenbezogenen Leistungen und werden daher in diesem Kapitel nicht als Träger berücksichtigt.
Für die Kinder- und Jugendhilfe lassen sich im Hinblick auf planende, ausführende und finanzierende Funktionen drei Typen von Trägern unterscheiden: Träger der öffentlichen Jugendhilfe (»öffentliche Träger«), Träger der freien Jugendhilfe (»freie gemeinnützige Träger«) und freie gewerbliche Träger. Die Kinder- und Jugendhilfe ist geprägt durch ein hohes Maß an Trägerpluralität, bei dem viele Träger Einrichtungen und Dienste betreiben und somit eine vielgestaltige Leistungs- und Angebotsstruktur schaffen. Der mit dieser Vielgestaltigkeit einhergehenden Option fachlicher Vielfalt und Dynamik sowie den Möglichkeiten flexibler Ausgestaltung von Angeboten für die Leistungsadressaten und -adressatinnen steht die Notwendigkeit gegenüber, Verantwortungsbereiche zwischen den Trägern festzulegen, Angebote zu planen und aufeinander abzustimmen sowie für eine Gewährleistung einer angemessenen Angebotsstruktur zu sorgen und politische Entscheidungen zu den infrastrukturellen Rahmungen herbeizuführen. Welche Trägerformen in der Kinder- und Jugendhilfe agieren, in welchen Verhältnissen zueinander diese Träger stehen und in welchen grundlegenden Modalitäten infrastrukturelle Entscheidungen und Kooperationen geprägt werden, ist das Thema dieses Kapitels.
Die drei genannten Trägerblöcke und deren im Folgenden zu erörternden Bezüge zueinander werden zur weiteren Orientierung in folgender Abbildung charakterisiert (
Abb. 4: Trägerblöcke in der Kinder- und Jugendhilfe und deren Bezüge zueinander
3.1 Öffentliche, freie gemeinnützige und gewerbliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe
Wer Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist, wird gemäß § 69 Abs. 1 SGB VIII durch das jeweilige Landesrecht bestimmt. Auf der örtlichen Ebene sind das die kreisfreien Städte und die Landkreise; in einigen Bundesländern können kreisangehörige Städte und Gemeinden ab einer bestimmten Größe (in NRW: ab 20.000 Einwohnern) zum Träger der öffentlichen Jugendhilfe werden und ein eigenes Jugendamt errichten. Zur Realisierung der Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe errichten die örtlichen Träger ein Jugendamt (§ 69 Abs. 3 SGB VIII). Überörtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die ebenfalls nach Landesrecht festgelegt werden, sind entweder höhere Kommunalverbände (in NRW: Landschaftsverbände), oder die Aufgaben der überörtlichen Träger werden als unmittelbare Staatsaufgabe auf Landesebene wahrgenommen (einem Ministerium, einer Senatsverwaltung oder einer Bürgerschaft zugeordnet; genauer: Wiesner 2015, § 69 Rz 16 ff.). Die überörtlichen Träger errichten zur Wahrnehmung ihrer in § 85 Abs. 2 SGB VIII definierten Aufgaben ein Landesjugendamt (§ 69 Abs. 3 SGB VIII). Die Landesjugendämter haben Aufgaben in der Beratung der örtlichen (insbesondere öffentlichen) Träger, in der fachlichen Innovationsförderung (Modellprojekte, Fortbildung, Orientierungshilfen und Empfehlungen) sowie in der hoheitlichen Funktion der Erteilung von Betriebserlaubnissen und des Schutzes von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen (umgangssprachlich mit dem Begriff ›Heimaufsicht‹ gekennzeichnet). Die örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben die Aufgabe, alle im SGB VIII festgelegten Funktionen und Anforderungen für die in ihrem Zuständigkeitsbereich liegende Region zu erfüllen. Das Jugendamt nimmt die ihm gesetzlich zugeschriebene Gesamtverantwortung des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe wahr; dies bezieht zum einen die Verpflichtung für die Infrastruktur ein, nach der alle in § 2 SGB VIII genannten Leistungen erbracht und anderen Aufgaben erfüllt werden, und zum anderen bedeutet Gesamtverantwortung eine Letztverantwortung gegenüber den Leistungsberechtigten, dass diese ihre Leistungsansprüche realisieren kann und dabei im Grundsatz qualitativ geeignete Einrichtungen vorfindet.
Ein besonderes Strukturmerkmal des Jugendamtes, das dieses Amt aus der gesamten Organisationsstruktur einer Kommunalverwaltung hervorhebt, ist die sog. »Zweigliedrigkeit« (
Das Jugendamt wirkt in einer Doppelfunktion zum einen als Träger von Einrichtungen und Diensten sowie zum anderen als Gewährleistungsträger sowohl für die Realisierung der individuellen Rechtsansprüche als auch für die Gestaltung einer angemessenen Infrastruktur. Damit steht es bei der Erfüllung seiner Planungs- und Steuerungsaufgaben in einem eigentümlichen Spannungsfeld: Einerseits verfolgt das Jugendamt spezifische Organisationsinteressen für die eigenen Einrichtungen, andererseits soll es Prozesse moderieren, in denen Fragen der Infrastrukturgestaltung (einschließlich der damit einhergehenden finanziellen Folgen) mit verschiedenen Trägern und mit politischen Akteuren ausgehandelt und entschieden werden