Der lautlose Schrei. Sophia Gabriel Hildesheimer-Kießling
ist, ihr Mütter, bergt eure großen Kinder vor dem Abgrund. – Ach, die Freiheit ist das schwerste Los.
Wenn ihr Mütter selbst die Tränen verloren habt, was soll aus uns werden?
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„Im blauen Norden der Windrose wachend zur Nacht,
schon eine Knospe Tod auf den Lidern
weiter zur Quelle …“
Nelly Sachs
Und wenn die Quelle nicht mehr gewußt wird?
Im Land des Vergessens ist ewiger Tod.
Ich rufe nicht mehr:
Seid gut, nicht böse!
Nur noch mit der Stimme, die bleibt:
Bleibt doch am Leben!
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Wißt ihr denn nicht mehr, was Leben ist?
Den Baum des Lebens, so wird behauptet,
wollte der eifersüchtige Gott für sich behalten …
nach dem ersten Buch der Bibel Gen 2.17/3.3.
Wie können die Leute mit der höchsten Intelligenz nur so dumm sein!
Was sie tun, geht
haarscharf am Leben vorbei!
„Zwischen Himmel und Hölle ist nur ein Haar.“ …
jüdisches Sprichwort
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I am a rock, I am an island –
and a rock feels no pain
and an island never cries …2)
2 aus einem Lied von Simon & Garfunkel – US-amerikanisches Folk-Rock-Duo, das im Jahre 1957 von den Schülern Paul Simon und Art Garfunkel gegründet wurde.
Es kann schon sein in dieser Welt und Zeit, daß du an Liebeskummer leidest, an Liebeskummer an der Welt … und keinen Schmerz mehr fühlen willst und kannst. Doch ich sage dir mit der letzten Stimme:
Wenn du keinen Schmerz mehr fühlst, hast du nicht unendliches Leben gewonnen – ich sage dir, du hast das Leben dann endgültig verloren.
Und ich bin unendlich, unendlich traurig, wenn du das nicht mehr verstehst.
Mein Kind, dann schreie ich um dich mit unsagbarem Schmerz!
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„Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.“
Friedrich Schiller
Wenn du mir sagst:
„Was sollen wir mit dem sentimentalen Gesäusel?“,
dann hast du etwas verkannt – und nicht du bist Wissender, denn wenn du die Freude nicht mehr kennst, weißt du nichts mehr.
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Die Sprache verrät dich, mein Freund. Wenn wir alle nur noch nett miteinander sind, dann hat die eingespeicherte Dankbarkeit keinen Sinn, keinen Wert …
was tue ich, wenn du die Worte nicht mehr verstehst? Wenn du die Welt nicht mehr siehst …
Worte kommen aus der Mitte – wir Alten nennen das Herz …
Doch wenn es keines mehr gibt, wenn es kein Herz mehr gibt, was dann?
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Und: Was denkst du eigentlich?
Ein Gedanke – ich bin sicher, ein wahrer Gedanke kommt auch aus dem Herzen, aus der Mitte. Kann ich mit dir noch reden darüber, was Wahrheit sein könnte? Laß es uns versuchen, bevor du den letzten Schritt tust.
Laß uns das Leben wieder leise lernen …
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„Alles ist Windhauch.“
Kohelet 1,2 – ein alttestamentliches Buch
Der alte Kohelet hatte auch schon beinahe aufgegeben.
Sie ist gar nicht so modern, diese Art Fluchttendenz.
Fliehen – wohin?
Wo ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?
Kannst du stoppen vor dem Abgrund des Wahnsinns?
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„Der Schein trügt.“ – Diese „alten Kamellen“.
Früher hat man die Alten geschätzt mit ihrer Weisheit und Lebenserfahrung.
Mit deinen Worten – übersetze mir:
– Was ist Schein?
– Was ist Weisheit?
– Was ist Erfahrung?
– Was ist – Leben?
Finden wir uns irgendwo?
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Aus meiner Schatztruhe hole ich alles –
und du hinterfrägst all das nicht mehr.
Es ist nicht mehr vorhanden.
Aus meiner Schatztruhe hole ich
Worte der Sehnsucht.
Du siehst, kennst, hörst, weißt
nichts mehr.
Imitation ist es, was bleibt
und ein Eigenleben bekommt,
eine hohle Eigendynamik.
Du wirst an der Oberfläche, an der Peripherie kleben,
das sage ich dir voraus!
Mit wem rede ich noch?
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Die Märchen und Mythen habt ihr umgedichtet – ganz schlau.
Weise ist das nicht, und die alte Weise kennt ihr nicht.
Auf welche Weise wollt ihr
weitermachen?