Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel


Скачать книгу

      Nur zwei der Besuchten, die sich gerade in einer heftigen Diskussion befanden und damit offenbar nicht richtig vorangekommen waren, reagierten gereizt und fauchten den Wachmann an: „Muss das denn ausgerechnet jetzt in der Dienstzeit sein?“ Und zu Herkommer gewandt: „Also los, Mann, aber machen Sie schnell!“

      „Oh, wenn ihr wüsstet, was ich weiß“, dachte Herkommer schadenfroh beim Messen, „nächstens fliegt ihr ja doch alle hochkant hier raus. Nix ist’s mit einer neuen Heizung! – Oh, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“

      Dass dieser Rauswurf blutig verlaufen würde, konnte Herkommer nicht ahnen. –

      Der Rundgang hatte über zwei Stunden gedauert. Wenn er jetzt noch die Breite der Treppe messen würde – und auch die Höhe der Stufen und die Tiefe der Trittflächen, denn deren Zahlenverhältnis war für die Vornehmheit dieser Treppe gewiss nicht ohne Bedeutung –, dann würde das mit dem Wachmann an seiner Seite schwierig werden, weil diese Messungen mit den Kubikmetern für die Heizung wahrhaftig nichts mehr zu tun hatten. So tat er einfach so, als messe er das Treppenhaus in seiner ganzen Breite, schrieb aber nur die Treppenbreite auf und begnügte sich bei den Stufen mit einer Schätzung ihres Verhältnisses von Stufenhöhe zu Trittfläche, mit einem befriedigenden Ergebnis übrigens: Die Treppe, alles massiver grauer Granit, war sehr flach, sehr herrschaftlich, sehr vornehm.

      Wieder in der Portierloge angekommen, wandte sich Herkommer an den Pförtner.

      „Jetzt müsste ich noch die Raumhöhen von Souterrain, Erdgeschoss und Obergeschoss wissen“, sagte Herkommer, obwohl ihn das in Wahrheit nicht weiter interessierte und er nur seine Schwindelei mit den Kubikmetern für die Heizung perfekt machen wollte.

      „Oh weh, die Räume sind hoch, ich glaube über drei Meter fünfzig, und der große Festsaal hat natürlich die doppelte Höhe. Da müssen wir mit einer langen Leiter – aber halt, ich weiß, der Hausmeister hat doch da irgendwo noch alte Pläne!“

      Die Pläne, die schließlich zum Vorschein kamen, arg vergilbt und verstoßen, stammten noch aus dem Jahre 1875, dem Jahr des Baubeginns. In den seither vergangenen sechzig Jahren seien mehrere Umbauten vorgenommen worden, sodass die Pläne nicht mehr ganz dem heutigen Stand entsprächen, doch seien sie allemal geeignet, um daraus die Raumhöhen zu entnehmen. Herkommer überredete den Hausmeister, ihm die ganzen Pläne für eine kurze Zeit zu überlassen.

      „Es wird dann alles viel schneller gehen!“, sagte Herkommer. „Das erspart uns auch sonst bei der Planung enorm viel Arbeit!“, und er versprach dem Hausmeister in die Hand, ihm die Pläne in den nächsten Tagen zurückzuschicken. –

      Schon am Tag darauf war Herkommer wieder in Nürnberg, befasste sich eine halbe Nacht lang damit, die Pläne mit Bleistift mehr oder weniger freihändig auf Transparentpapier durchzuzeichnen und wunderte sich über den enormen Bleistiftverbrauch auf diesem Papier. Am nächsten Morgen erschien er, nachdem er die Originale zur Post gebracht hatte, pünktlich zum Dienst. Der Kreisleiter zitierte ihn sogleich zu sich und kam sofort zur Sache.

      „Legen Sie los! Ich bin außerordentlich gespannt!“

      „Es handelt sich um das Borsig-Palais“, berichtete Herkommer nicht ohne Stolz, „erst kürzlich vom Reich erworben. Dort ist schon seit Juni vergangenen Jahres die Kanzlei des Stellvertretenden Reichskanzlers untergebracht, es ist also der Dienstsitz des Vizekanzlers.“

      „Ja, das habe ich inzwischen auch gerüchtweise gehört.“

      „Ich war in jedem Raum und konnte mir anschließend noch die alten Pläne des Gebäudes beschaffen. Die konnte ich natürlich nicht im Original mitbringen, aber ich habe sie freihand durchgezeichnet. Die Änderungen durch spätere Umbauten sind nicht allzu bedeutend. Ich habe die Änderungen, soweit ich sie erkennen konnte, eingezeichnet. Unsichere Bereiche halten sich ziemlich in Grenzen, ich habe sie durch eine ganz weite Schrägschraffur, die ich darübergelegt habe, kenntlich gemacht.“

      Der Kreisleiter schien hochzufrieden, aber die Details, mit denen Herkommer fortfuhr, um den überaus repräsentativen Charakter des Gebäudes zu beschreiben, wollte er sich gar nicht mehr alle anhören.

      „Eigentlich wäre meine Reise gar nicht notwendig gewesen“, sagte Herkommer schließlich.

      „Aber wer hätte das denn vorher wissen können! Es hätte ja auch sein können, dass uns diese alten Säcke in Berlin reinlegen wollen, es gibt da doch erhebliche Spannungen zwischen der Partei – nicht etwa dem Führer! – und der SA. Und vor allem das Reichswehrministerium und speziell die Heeresleitung machen ihren Einfluss geltend und überwachen und behindern die SA, wo es nur geht; du glaubst nicht, was das für ein grenzenloses Durcheinander und Kompetenzgerangel in Berlin geworden ist. Aber es ist ja gut gegangen!“, rief er begeistert aus. „Etwas Geeigneteres jedenfalls kann es für uns überhaupt nicht geben! Von der prominenten Lage in der Mitte der Reichshauptstadt ganz abgesehen! Ich bin morgen in München und werde dem Obergruppenführer berichten.“ –

      Als der Kreisleiter tags darauf zurückgekommen war, rief er Herkommer gleich wieder zu sich.

      „Wir haben in München einen Volltreffer gelandet! Der Obergruppenführer hat im Auftrag des Stabschefs, der von deiner Arbeit ebenfalls recht angetan war, dem Liegenschaftsamt sofort unser Einverständnis übermittelt, und der Stabschef selber hat dem Führer in aller Form persönlich gedankt. Das will bei dem was heißen!“, lachte er. „Ich selbst werde mein Parteiamt hier niederlegen und als höherer SA-Führer mit dem Rang eines SA-Sturmbannführers in Berlin eine wichtige Position im Stab übernehmen. Außerdem: Der Obergruppenführer legt Wert darauf, dass du mitkommst. Ich übrigens auch. Es ist dir wohl klar, dass du den Münchnern dieses Angebot nicht ausschlagen kannst?“

      Herkommer antwortete darauf nicht erst lange, sondern fragte nur: „Und wann wird das sein?“

      „Irgendwann im Sommer.“ –

      6_Fellgiebels Ärger mit der Partei_Seine Frau Marianna und der Adoptivsohn Jan

      Als Fellgiebel von seinen Krankenbesuchen zurückkam, rief ihm die Sprechstundenhilfe schon über den Hof zu: „Es hat angerufen, Herr Doktor, Sie möchten sich doch bitte auf der Ortsgruppe beim Ortsgruppenleiter melden.“

      „Melden tu’ ich mich überhaupt nirgends! Sagen Sie das denen!“, schimpfte Fellgiebel ziemlich laut zurück, wobei seine Sprechstundenhilfe freilich sogleich erkannte, dass das nicht etwa ein Auftrag für sie war. „Es kann höchstens sein, dass ich mal vorbeikomme – nein, ich werde dort anrufen.“

      Drinnen fragte er dann: „Und warum soll ich mich dort melden? Was haben die gewollt?“

      „Es ging irgendwie um das Wartezimmer.“

      „– um das Wartezimmer? Keine Ahnung! Was geht die mein Wartezimmer an!“

      Beim Mittagessen machte sich dann bei Fellgiebel doch eine gewisse Unruhe breit, und er erörterte den Anruf mit seiner Frau.

      „Nicht dass mich dieser Anruf im Geringsten beunruhigen würde –“

      „Natürlich beunruhigt er dich, Wilhelm! Und mich auch. Eine Vorladung von der Ortsgruppenleitung hat immer etwas Bedrohliches.“

      „Ach was, für mich nicht die Spur! Aber natürlich ist man da etwas neugierig, das ist doch klar! Außerdem ist das keine Vorladung, wie du meinst, sondern ich soll halt mal vorbeikommen.“

      „Melden sollst du dich, Wilhelm, melden!“

      Fellgiebel musste lachen, als er seine Frau ansah, die in so eindringlichem Ernst auf ihn einredete.

      „Du schaust mich mal wieder so wissend an, Marianna, hast du denn eine Idee, was da los sein könnte?“

      Er kannte diesen seltsam abgründigen Blick seiner Frau, der ihn immer dann traf, wenn sie eine besondere Einsicht hatte, die ihm verschlossen war. Gewöhnlich lächelte sie dabei, und Fellgiebel rief dann meistens, ‚Du bist eine Unterirdische!‘, weil sie ihm unheimlich war, aber das


Скачать книгу