Sticht in meine Seele. Altug Barbaros
sehr wir einander ähnelten, und ich wurde von einer eigentümlichen Freude ergriffen. Dabei hatte Meliha Hanım gewiss kein erfreuliches Leben gehabt. Sonst hätte sie sich wohl kaum im Alter von 79 Jahren in ihrem Haus in Şişli, wo sie seit Jahren allein gelebt hatte, erhängt, und noch dazu ganz ohne Abschiedsbrief.
Von Meliha Saraçoğlus Leben und von ihrem Tod erfuhr ich an ein und demselben Tag. Wie auch von einigen anderen Dingen, die ich bis dahin noch nicht gewusst hatte.
Istanbul?
„Warum ich?“, fragte ich. Eigentlich kannte ich die Antwort bereits: Was passiert war, war in Istanbul passiert, und bei der Pariser Zeitschrift, bei der ich während meines Studiums hospitiert hatte und wo ich inzwischen zur Korrespondentin befördert worden war, war ich die Einzige, die Türkisch konnte. Außerdem hieß ich Derin, war also für die anderen naturgemäß immer noch mehr Türkin als Französin.
Insgeheim aber ärgerte es mich, dass ein Ort, an den ich seit Jahren keinen Fuß mehr gesetzt hatte, nach wie vor als meine „Heimat“ angesehen wurde. Außerdem hatte ich von dem Journalisten, der dort ermordet worden war, nie zuvor gehört. Ich kannte überhaupt nur eine Handvoll Armenier, und das waren alles berufliche Kontakte aus Paris. Mit einem hatte ich ein Interview über sein neues Album geführt; er konnte sich partout meinen Namen nicht merken, aber dazu war er natürlich auch viel zu berühmt. Immerhin hatte er an meiner Hautfarbe und meinen schwarzen Locken erkannt, dass ich keine typische Französin war, und mich gefragt, ob ich Maghrebinerin sei. Als ich mit einem schlichten „Nein“ antwortete, ließ er das Thema auf sich beruhen. Ein anderer war ein recht gutaussehender, sehr von sich eingenommener junger Mann gewesen, der damals gerade für den Bürgermeisterposten eines Pariser Vororts kandidierte. Ich hatte ihn auf einer Konferenz kennengelernt und gleich wieder vergessen. Als er dann seine Wahlkampagne startete, warf unsere Redakteurin die Idee in den Raum, eine Titelstory daraus zu machen, und eine Stimme von der anderen Seite des Tisches sagte: „Derin kennt ihn schon, sie waren beide beim Mittelmeerforum in Marseille.“ Das kam natürlich von Emmanuelle, die zwar ständig ihre Haarfarbe, ihren Kleidungsstil, ihre Freunde und ihre Interessen wechselte, ihre Taktlosigkeit aber konsequent beibehielt und dafür jetzt wütend von mir angefunkelt wurde. Sie war neu im Team, hatte nach ihrem Uni Abschluss erst ein Verlagspraktikum absolviert und war dann zur Selbstfindung in eine der französischen Überseekolonien gegangen. Nachdem sie wieder zurückgekehrt war, hatte ihre Mutter, die überall ihre Finger im Spiel hatte, ihr die Stelle bei uns besorgt.
Während mir das alles durch den Kopf schoss, überlegte ich, wie ich den Trip nach Istanbul auf jemand anderen abwälzen könnte. Plötzlich bei einer Beerdigung aufzukreuzen, wo ich doch meine Beziehungen zu Armeniern auf ein Mindestmaß zu beschränken versuchte, und dazu auch noch in eine Stadt zu reisen, mit der mich nichts verband, außer ein paar Leuten, die Kinderfotos auf Facebook stellten und mich darin markierten, obwohl ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte und mich nur noch schemenhaft an sie erinnerte – das war so ziemlich das Letzte, was ich wollte. „Warum ich?“, fragte ich also, was eine verkürzte Version von dem war, was ich eigentlich gern gefragt hätte, nämlich: „Mein Gott, wieso halst ihr mir das auf? Bin ich hier die Armenologin vom Dienst, oder was?“
„Weil du die Einzige bist, die Türkisch kann“, platzte es wie üblich aus Emmanuelle heraus. Während unsere Redakteurin eine huldvoll kreisende Bewegung mit der Hand vollführte, die wohl bedeuten sollte: „Bitte, da hast du deine Antwort“, ging mir bloß das türkische Wort für „Plappermaul“ durch den Kopf: Zevzek!
Letzter Abend
Während ich meine Sachen packte, überhäufte mich meine Mutter mit guten Ratschlägen, was ich in Istanbul tun solle und was nicht. Unvorbereitet, wie ich war, würde ich morgen früh an einen Ort fliegen, der mir völlig fremd geworden war, auch wenn dort immer noch mein Vater begraben lag. Worin vielleicht der einzige Reiz an meinem Flug nach Istanbul lag: Zum ersten Mal würde ich sein Grab besuchen. Es war, als könnte ich nach Jahren wieder zu dem Moment zurückkehren, in dem er uns verlassen hatte, als könnte ich ihn umarmen, mit ihm sprechen, wieder sein kleines Mädchen sein.
Denn Töchter, die ihren Vätern begegnen, werden wieder zu kleinen Mädchen, egal, wie alt sie sind; bei der Beerdigung meines Vaters hatte ich beobachtet, wie meine Mutter meinem Großvater um den Hals gefallen war, wie erleichtert sie dabei wirkte und wie sie an seiner Schulter zu schrumpfen schien, ganz so, als hätte sie nie geheiratet, wäre nie ausgezogen, hätte nie Kinder bekommen. Das war das lebendigste Bild, das mir von damals in Erinnerung geblieben war. Ich musste daran denken, dass ich nie wieder einen Augenblick wie diesen erleben würde, in dem ich mich so geborgen und so sicher fühlen konnte.
„Vergiss nicht, deinen Kopf zu bedecken, wenn du auf den Friedhof gehst“, sagte meine Mutter, während ich mir überlegte, welche klimatischen Bedingungen wohl in Istanbul herrschen mochten. Den Telefonhörer am Ohr, lief ich durch die Zimmer meiner Wohnung und suchte meine Sachen zusammen. „Wird gemacht“, sagte ich. „Ich habe ja noch den roten Schal, den du mir geschenkt hast.“
„Wie wäre es mit dem passenden Lippenstift dazu?“, erregte sie sich. „Damit auch jeder sieht, dass du was zu feiern hast? Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle. Man geht doch nicht mit einem rosaroten Kopftuch auf den Friedhof! Such dir ein dunkles, dezentes heraus. Zur Not kaufst du dir eins am Flughafen. Takel dich bloß nicht zu sehr auf. Und pass auf, dass man deine Tätowierung nicht sieht.“
„Ich fliege doch nicht nach Teheran, Mama! Und ich habe bestimmt nicht vor, in Istanbul einen Tschador zu tragen.“ Das Thema Tätowierung überging ich geflissentlich. Meine Mutter brauchte nicht zu wissen, dass sich inzwischen zu dem einen Tattoo sechs weitere hinzugesellt hatten, alle größer als das erste. Dieses Geheimnis war bis jetzt nicht einmal Emmanuelles Geschwätzigkeit zum Opfer gefallen. Meine Mutter hatte nämlich bereits beim Anblick meines ersten Tattoos so heftig reagiert, dass wohl selbst Emanuelle sich nicht getraut hatte, ihr die weitere Entwicklung zu schildern. Obwohl das erste noch ganz klein gewesen war. Ein Datum auf der Innenseite meines Arms: 15. 07. 1983.
Nach Jahren
„Und bleib ganz ruhig bei der Beerdigung. Nimm am besten ein Beruhigungsmittel mit.“ Ich hörte, wie meine Mutter am anderen Ende der Leitung innehielt und tief einatmete. „Jeder trauert auf seine Weise, mein Kind“, sagte sie dann und wollte gerade etwas hinzufügen, als es an meiner Tür klingelte. Wer konnte das sein, um diese Uhrzeit? Immerhin war damit der Redefluss meiner Mutter unterbrochen. Ehe ich auflegen und das Paar Stiefel, das ich in der Hand hielt, im Koffer verstauen konnte, klingelte es noch zweimal. Ich ging hin und fragte laut: „Wer ist da?“
„Ich“, kam es zurück. Ich traute meinen Ohren nicht. Es war Emmanuelle!
Als ich die Tür öffnete, stand mir Emmanuelle gegenüber, wie ich sie kannte. Nervös von einem Fuß auf den anderen tretend, die blondierten Haare, die allmählich wieder rauswuchsen, leicht zerzaust, blickte sie mir unsicher in die Augen. Auf ihrem dunkelblauen Trenchcoat lagen Schneeflocken, die noch keine Zeit gehabt hatten, zu schmelzen. Ich schien ein großes Fragezeichen im Gesicht zu haben, jedenfalls setzte sie, noch etwas außer Atem, zu einer Erklärung an. Sie wäre eigentlich gar nicht gekommen, wenn ihre Mutter nicht darauf bestanden hätte. Es sei natürlich nicht so, dass sie nicht gewollt hätte, sie habe sogar sehr gewollt, habe aber befürchtet, dass ich es nicht wolle.
„Na, immerhin hast du in all den Jahren, in denen wir uns aus dem Weg gegangen sind, damit angefangen, erst zu denken und dann zu handeln“, sagte ich.
Sie hätte es eben, fuhr sie fort, einfach nicht ausgehalten, mich vor meiner Abreise nicht noch einmal zu sehen. Außerdem habe sie ein schlechtes Gewissen. Sie habe das Gefühl, als wäre ihr loses Mundwerk schuld daran, dass diese Aufgabe an mir hängen geblieben sei. Dabei wisse sie doch, wie heikel die ganze Sache für mich sei. Bei diesen Worten senkte sie schuldbewusst ein wenig den Kopf.
„Woher hast du meine Adresse?“, fragte ich, vielleicht etwas zu schroff.
„Von