Anna Karenina. Лев Толстой

Anna Karenina - Лев Толстой


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mit Anna ein Gespräch anzuknüpfen, und eine beleibte alte Dame hüllte gleichfalls ihre Füße in eine Decke und äußerte sich abfällig über die Heizung. Anna erwiderte den Damen ein paar Worte; aber da das Gespräch ihr nicht besonders interessant werden zu wollen schien, so hieß sie Annuschka die Reiselaterne hervorholen, hängte sie an der Armlehne des Sessels auf und nahm aus ihrer Reisetasche ein Papiermesser und einen englischen Roman. Anfangs konnte sie nicht lesen. Zuerst störte sie das Lärmen und Hinundherlaufen auf dem Bahnsteige; dann, als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, mußte sie unwillkürlich auf das von ihm verursachte Geräusch horchen; darauf wurde ihre Aufmerksamkeit durch den Schnee abgelenkt, der gegen das linke Fenster schlug und an der Scheibe haftenblieb, und durch den Anblick des vorbeigehenden, dicht eingemummten Schaffners, der auf der einen Seite ganz mit Schnee bedeckt war, und durch die Gespräche der anderen Damen über den entsetzlichen Schneesturm draußen. Aber dann weiter blieb alles unverändert: dasselbe rüttelnde Stoßen, derselbe Schnee am Fenster, dieselben schnellen Übergänge von Gluthitze zu Kälte und wieder zu Hitze, dasselbe Vorüberhuschen derselben Personen im Halbdunkel und dieselben Stimmen; und nun begann Anna zu lesen und das Gelesene zu verstehen. Annuschka schlummerte schon; die rote Reisetasche hielt sie mit ihren breiten Händen auf den Knien; ihre Hände staken in Handschuhen, von denen der eine zerrissen war. Anna Arkadjewna las, und sie verstand, was sie las; aber es machte ihr kein Vergnügen, zu lesen, das heißt das Leben anderer Menschen gleichsam wie in einem Spiegel zu verfolgen. Es verlangte sie gar zu sehr, selbst zu leben. Mochte sie nun lesen, wie die Heldin des Romans einen Kranken pflegte, so wünschte sie, selbst mit unhörbaren Schritten durch das Zimmer des Kranken zu gehen; oder las sie, wie ein Parlamentsmitglied eine Rede hielt, so begehrte sie, selbst eine solche Rede zu halten; oder las sie, wie Lady Mary hoch zu Roß hinter der Meute dahingaloppierte und ihre Schwägerin neckte und alle Teilnehmer der Jagd durch ihre Kühnheit in Erstaunen versetzte, so regte sich in ihr das Verlangen, dies auch zu tun. Aber irgend etwas zu tun, dazu war für sie jetzt keine Möglichkeit, und so zwang sie sich denn zu lesen, während ihre kleinen Hände mit dem glatten Papiermesser spielten.

      Der Held des Romans war schon nahe daran, das zu erreichen, was für einen Engländer das höchste Glück ist, den Baronetstitel und ein Landgut, und Anna hegte den Wunsch, mit ihm zusammen auf dieses Gut zu fahren, als sie plötzlich die Empfindung hatte, eigentlich müsse er sich schämen und sie müsse es auch tun. Aber weshalb sollte er sich denn schämen? ›Weshalb brauche ich mich zu schämen?‹ fragte sie sich erstaunt und gekränkt. Sie legte das Buch auf ihre Knie, ließ sich gegen die Lehne des Sessels zurücksinken und preßte beide Hände fest um das Papiermesser zusammen. Sie hatte sich über nichts zu schämen. Sie musterte alle ihre Moskauer Erinnerungen: es war nur Gutes und Angenehmes. Sie dachte an den Ball, sie dachte an Wronski und seine verliebte, demütige Miene; sie rief sich alles, was zwischen ihnen beiden vorgegangen war, ins Gedächtnis zurück; es war nichts Beschämendes darunter. Aber dabei wurde doch gerade an dieser Stelle der Erinnerungen das Gefühl der Scham stärker, als ob eine innere Stimme gerade dann, wenn sie an Wronski dachte, ihr wie bei einem gewissen Gesellschaftsspiele zuriefe: ›Warm, sehr warm, heiß!‹ ›Nun, was denn?‹ sagte sie energisch zu sich selbst und setzte sich in ihrem Sessel wieder aufrecht. ›Was soll denn das? Fürchte ich mich etwa, dieser Sache offen ins Gesicht zu sehen? Was liegt denn vor? Als ob zwischen mir und diesem jungen Offizier irgendwelche andere Beziehungen bestünden und bestehen könnten als mit jedem anderen Bekannten.‹ Sie lächelte geringschätzig und griff wieder nach dem Buche; aber jetzt vermochte sie das, was sie las, schlechterdings nicht mehr zu verstehen. Sie fuhr mit dem Papiermesser über die Fensterscheibe und hielt dann seine glatte, kalte Fläche an ihre Wange und lachte beinahe laut auf vor Freude, obwohl zu diesem Gefühl, das sie plötzlich überkam, gar kein Anlaß vorlag. Sie hatte die Empfindung, daß die Spannung ihrer Nerven immer straffer werde, wie wenn sie an Wirbeln befestigt wären, die immer schärfer angezogen würden. Sie fühlte, daß ihre Augen sich immer weiter und weiter öffneten, daß ihre Finger und Zehen sich nervös bewegten, daß ihr irgend etwas in der Brust den Atem benahm und daß alles Sichtbare und Hörbare in diesem hin und her schwankenden, halbdunklen Raume ihr einen ungewöhnlich grellen Eindruck machte. Fortwährend kamen ihr Augenblicke, in denen sie zweifelte, ob der Wagen vorwärts oder rückwärts fahre oder überhaupt still stehe. Saß da Annuschka neben ihr oder eine Fremde? ›Was liegt dort auf der Lehne, ist es ein Pelz oder ein Tier? Und bin ich selbst hier? Ich selbst oder eine andere?‹ Es war ihr furchtbar, sich dieser halben Bewußtlosigkeit hinzugeben. Aber sie fühlte sich immer wieder zu diesem Zustande hingezogen und konnte sich nach Willkür ihm überlassen und sich von ihm befreien. Sie stand auf, um zu sich zu kommen, legte das Reisetuch weg und knöpfte den Kragen ihres warmen Kleides ab. Einen Augenblick war sie bei klarer Besinnung und begriff, daß der eintretende hagere Arbeitsmann im langen Nankingüberrock, an dem mehrere Knöpfe fehlten, der Heizer war, daß er nach dem Thermometer sah, daß Wind und Schnee hinter ihm durch die Tür eindrangen; aber dann verwirrten sich ihre Gedanken wieder. Dieser Arbeitsmann mit dem langen Oberkörper begann etwas an der Wand zu benagen; die alte Dame streckte ihre Beine durch die ganze Länge des Wagens aus und füllte ihn wie eine schwarze Wolke ganz aus; dann knarrte und krachte es furchtbar, als ob etwas in Stücke ginge; dann blendete ein rotes Feuer ihre Augen, und dann verschwand alles hinter einer Wand. Anna hatte das Gefühl, als ob sie tief hinunterfiele. Aber all dies war nicht furchtbar, sondern ganz vergnüglich. Die Stimme eines eingemummten, mit Schnee bedeckten Mannes rief etwas nahe an ihrem Ohr. Sie stand auf und sammelte ihre Gedanken; sie begriff, daß der Zug in eine Station einfuhr und daß dieser Mann der Schaffner gewesen war. Sie ließ sich von Annuschka den Kragen, den sie vorhin abgelegt hatte, und noch ein Tuch reichen, nahm beides um und ging auf die Tür zu.

      »Belieben Sie auszusteigen?« fragte Annuschka.

      »Ja, ich möchte ein bißchen frische Luft schöpfen. Es ist hier sehr heiß.«

      Sobald sie die Tür ein wenig öffnete, stürmten Schnee und Wind ihr entgegen und kämpften mit ihr um die Tür. Das kam ihr lustig vor. Sie öffnete die Tür mit Gewalt und trat hinaus. Der Wind schien nur auf sie gewartet zu haben; er pfiff freudig auf und wollte sie umfassen und davontragen; aber sie hielt sich mit der Hand an der kalten, eisernen Stange fest, stieg, ihr Kleid festhaltend, auf den Bahnsteig hinunter und trat in den Schutz des Wagens. Der Wind war auf den Stufen sehr heftig gewesen; aber auf dem Bahnsteig hinter den Wagen war es geschützt. Es war ihr eine Wonne, mit ganzer Brust die kalte Schneeluft einzuatmen, und neben dem Wagen stehend, betrachtete sie den Bahnsteig und das erleuchtete Bahnhofsgebäude.

       30

      Ein furchtbarer Sturm tobte und pfiff von der einen Ecke des Bahnhofsgebäudes her zwischen den Rädern der Wagen und um die Telegrafenpfähle. Die Wagen, die Pfähle, die Menschen, alles, was man nur sehen konnte, war von einer Seite her mit Schnee bedeckt, und diese Schneehülle wurde immer dichter. Mitunter legte sich der Sturm für einen Augenblick; aber dann kam er wieder mit solchem Ungestüm herangebraust, daß es unmöglich schien, ihm Widerstand zu leisten. Trotzdem liefen einige Leute in munterem Gespräch über die knarrenden Bohlen des Bahnsteiges hin und öffneten und schlossen fortwährend die großen Türen der Bahnhofswirtschaft. Ein gebückter Mann glitt schattenhaft unten an Annas Füßen vorbei, und es ertönte der Klang eines Hammers, der auf Eisen schlug. »Gib das Telegramm her!« erscholl eine ärgerliche Stimme von der anderen Seite her aus der Dunkelheit und dem Sturme. »Hierher, hierher! Nummer 28!« riefen verschiedene Stimmen, und mit Schnee bedeckte, vermummte Gestalten liefen vorbei. Zwei Herren mit feurig leuchtenden Zigaretten im Munde gingen vorüber. Noch einmal atmete Anna tief auf, um ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen, und hatte bereits die Hand aus dem Muff herausgezogen, um die Stange an der Wagentreppe zu fassen und wieder einzusteigen, als ein Herr in einem Militärmantel dicht neben ihr durch sein Dazwischentreten ihr das flackernde Licht der Laterne verdeckte. Sie wendete sich um und erkannte im gleichen Augenblicke Wronskis Gesicht. Die Hand an den Mützenschirm legend, verbeugte er sich vor ihr und fragte, ob sie vielleicht etwas bedürfe und er ihr behilflich sein könne. Sie blickte ihn eine ziemliche Weile an, ohne zu antworten, und obgleich die ihr zugekehrte Seite seiner Gestalt sich im Schatten befand, sah sie doch den Ausdruck seines Gesichtes und seiner Augen oder glaubte wenigstens, ihn zu sehen. Es war wieder jener Ausdruck ehrfurchtsvollen Entzückens, der tags zuvor einen so starken Eindruck auf sie gemacht hatte. Mehr


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