Krieg und Frieden. Лев Толстой
vernichten können.
Fürst Andrei trat zu ihm und ergriff seine Hand.
»Es tut mir außerordentlich leid, daß Sie mich gestern verfehlt haben. Ich habe den ganzen Tag über mit den Deutschen meine Plackerei gehabt. Ich war mit Weyrother hingeritten, um die Disposition nachzuprüfen. Na, und wenn die Deutschen erst mit ihrer Gründlichkeit anfangen, da ist kein Ende zu finden.«
Boris lächelte, als hätte er Verständnis für das, was Fürst Andrei wie etwas allgemein Bekanntes andeutete. Aber er hörte den Namen Weyrother und sogar das Wort Disposition in diesem Sinn zum erstenmal.
»Nun also, mein Lieber, haben Sie noch den Wunsch, Adjutant zu werden? Ich habe diese Zeit her wiederholt an Sie gedacht.«
»Ja, ich dachte den Oberkommandierenden darum zu bitten«, antwortete Boris mit unwillkürlichem Erröten. »Fürst Kuragin hat an ihn einen Empfehlungsbrief für mich geschrieben. Ich wollte nur deswegen darum bitten«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu, »weil ich fürchte, daß die Garde nicht ins Gefecht kommt.«
»Schön, schön! Wir wollen über all das noch genauer reden«, sagte Fürst Andrei. »Erlauben Sie nur, daß ich zuerst diesen Herrn anmelde; dann stehe ich vollständig zu Ihren Diensten.«
Während Fürst Andrei zu Kutusow hineinging, um den General mit dem blauroten Gesicht anzumelden, fixierte dieser General, der offenbar Boris' Ansicht über die Vorzüge der ungeschriebenen Subordination nicht teilte, den dreisten Fähnrich, der ihn gehindert hatte, sein Gespräch mit dem Adjutanten zu Ende zu bringen, so hartnäckig, daß es diesem unbehaglich wurde. Er wandte sich ab und wartete ungeduldig auf des Fürsten Andrei Rückkehr aus dem Arbeitszimmer des Oberkommandierenden.
»Sehen Sie, mein Lieber, ich habe über Ihre Angelegenheit nachgedacht«, sagte Fürst Andrei, nachdem sie in den großen Saal mit dem Klavier gegangen waren. »Daß Sie zum Oberkommandierenden gehen, hat keinen Zweck; er wird Ihnen einen Haufen Liebenswürdigkeiten sagen, wird Sie zum Diner einladen« (»Das wäre noch nicht so übel für mein künftiges Dienen auf der Grundlage jener Subordination«, dachte Boris); »aber weiter wird dabei für Sie nichts herauskommen; wir Adjutanten und Ordonnanzoffiziere werden bald ein ganzes Bataillon sein. Aber wir wollen die Sache so machen: der Generaladjutant Fürst Dolgorukow, ein ganz vortrefflicher Mensch, ist ein guter Freund von mir. Nun wissen Sie das zwar vielleicht noch nicht, aber die Sache ist tatsächlich die, daß jetzt Kutusow mit seinem Stab und wir alle nichts mehr zu sagen haben; alle Fäden laufen jetzt beim Kaiser zusammen. Also da wollen wir uns an Dolgorukow wenden; ich muß sowieso zu ihm hingehen und habe mit ihm schon von Ihnen gesprochen; wir wollen sehen, ob er eine Möglichkeit findet, Sie bei sich oder irgendwo dort in der Nähe der Sonne unterzubringen.«
Fürst Andrei wurde immer besonders lebhaft und rege, wenn er in die Lage kam, einem jungen Mann Anleitung zu geben und ihm in der gesellschaftlichen Sphäre zu Erfolg zu verhelfen. Unter dem Vorwand, für einen andern eine Hilfe zu erbitten, die er für sich selbst aus Stolz niemals angenommen hätte, trat er gern in nähere Berührung mit jenen Kreisen, von denen aller Erfolg abhing, und die auf ihn eine starke Anziehungskraft ausübten. So nahm er sich denn des jungen Boris mit großem Vergnügen an und ging mit ihm zum Fürsten Dolgorukow.
Es war schon spätabends, als sie in das Olmützer Schloß hineingingen, wo die Kaiser und ihr Gefolge wohnten. An ebendiesem Tag hatte ein Kriegsrat stattgefunden, an welchem sämtliche Mitglieder des Hofkriegsrates und beide Kaiser teilgenommen hatten. Bei dieser Beratung war gegen die Ansicht zweier bejahrter Herren, nämlich Kutusows und des Fürsten Schwarzenberg, beschlossen worden, unverzüglich anzugreifen und Bonaparte eine Hauptschlacht zu liefern. Als Fürst Andrei, von Boris begleitet, in das Schloß kam, um den Fürsten Dolgorukow aufzusuchen, war der Kriegsrat soeben beendet. Jedermann im Hauptquartier stand noch unter dem starken Eindruck der heutigen, für die Partei der Jüngeren siegreichen Sitzung. Die Stimmen der Zauderer, welche geraten hatten, noch einige Zeit mit dem Angriff zu warten, waren so einmütig übertönt und ihre Gründe durch so unzweifelhafte Beweise von der Vorteilhaftigkeit eines Angriffs widerlegt worden, daß das, worüber im Kriegsrat gehandelt war, nämlich die bevorstehende Schlacht und der zweifellose Sieg, nicht mehr als etwas der Zukunft, sondern als etwas der Vergangenheit Angehöriges erschien. Alle Vorteile waren auf unserer Seite: gewaltige Streitkräfte, denen die Napoleons unzweifelhaft nicht gleichkamen, waren an einem Punkt zusammengezogen; die Truppen waren durch die Anwesenheit der Kaiser begeistert und brannten vor Kampfbegierde; der strategische Punkt, auf dem gekämpft werden sollte, war dem österreichischen General Weyrother, der die Truppen führte, bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt (es erschien als ein glücklicher Zufall, daß die österreichischen Truppen im vorigen Jahr ein Manöver gerade auf dem Terrain abgehalten hatten, auf dem jetzt die Schlacht mit den Franzosen stattfinden sollte), und genaue Karten des Terrains waren an alle Beteiligten verteilt; und Bonaparte, der sich offenbar schwach fühlte, unternahm nichts.
Dolgorukow, einer der eifrigsten Vertreter der Ansicht, daß man angreifen müsse, war soeben aus der Sitzung zurückgekommen, ermüdet und erschöpft, aber doch lebhaft erregt und stolz auf den errungenen Sieg. Fürst Andrei stellte ihm den von ihm protegierten Offizier vor; aber Fürst Dolgorukow drückte diesem zwar höflich und mit Wärme die Hand, redete ihn jedoch nicht an; es drängte ihn offenbar unwiderstehlich, die Gedanken auszusprechen, die ihn in diesem Augenblick stärker als alles andere beschäftigten. Er wandte sich an den Fürsten Andrei und sagte auf französisch mit Lebhaftigkeit und in abgerissener Redeweise:
»Nun, mein Lieber, was haben wir für einen Kampf zu bestehen gehabt! Gott gebe nur, daß derjenige Kampf, der die Folge davon sein wird, ebenso siegreich ausgehe. Aber, mein Lieber, ich muß bekennen, daß ich den Österreichern, und namentlich diesem Weyrother, nicht das Wasser reiche. Welch eine Akkuratesse, welch eine Durchdringung der Einzelheiten, welch eine Kenntnis der Örtlichkeit, welch ein Vorhersehen aller Möglichkeiten, aller Umstände, aller, auch der kleinsten Details! Nein, mein Lieber, günstigere Umstände als die, in denen wir uns jetzt befinden, könnte man sich mit aller Mühe nicht ausdenken. Eine Vereinigung österreichischer Sorgsamkeit und russischer Tapferkeit – was will man mehr?«
»Also ist der Angriff definitiv beschlossen?« fragte Bolkonski.
»Und wissen Sie, mein Lieber, mir scheint, daß Bonaparte tatsächlich mit seinem Latein am Ende ist. Sie wissen, daß der Kaiser heute einen Brief von ihm bekommen hat.« Dolgorukow lächelte bedeutsam.
»Ei, so etwas! Nun, was schreibt er denn?« fragte Bolkonski.
»Was kann er denn schreiben? Wischiwaschi, alles nur mit der Absicht, Zeit zu gewinnen. Ich sage Ihnen: wir haben ihn vollständig in der Hand; das ist sicher! Aber was das Amüsanteste ist«, fuhr er fort und lachte dabei gutmütig, »wir konnten absolut keine angemessene Fassung der Adresse für die Antwort finden. Wenn man nicht: ›An den Konsul‹ adressieren wollte und selbstverständlich auch nicht: ›An den Kaiser‹, so empfahl es sich, wie mir schien: ›An den General Bonaparte‹ zu schreiben.«
»Aber ob man ihm den Kaisertitel vorenthält oder ihn so schlechtweg als General Bonaparte bezeichnet, dazwischen ist doch ein großer Unterschied«, meinte Bolkonski.
»Das ist's ja eben!« unterbrach ihn Dolgorukow schnell und lachte von neuem. »Sie kennen Bilibin; er ist ein sehr kluger Mensch; der schlug vor, zu adressieren: ›An den Usurpator und Feind des Menschengeschlechtes‹.«
Dolgorukow lachte vergnügt.
»Nichts Schlimmeres?« bemerkte Bolkonski.
»Aber dann hat Bilibin doch im Ernst einen passenden Titel für die Adresse gefunden. Er ist ein scharfsinniger, kluger Mensch.«
»Nun, welchen denn?«
»›An das Oberhaupt der französischen Regierung, au chef du gouvernement français‹«, sagte Fürst Dolgorukow ernst und mit Behagen. »Nicht wahr, das ist gut?«
»Ja, aber ihm wird es sehr mißfallen«, bemerkte Bolkonski.
»Oh, sehr, sehr! Mein Bruder kennt ihn; der hat in Paris mehrere Male bei ihm, dem jetzigen Kaiser, gespeist und hat mir gesagt, er habe nie in seinem Leben einen schlaueren, listigeren Diplomaten