Antisemitismus. Achim Bühl

Antisemitismus - Achim Bühl


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degenerirte Race, blos durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher, über den Erdkreis gebietet.« Die Methode rassifizierender Kollektivierung („der Jude“), in Verbindung mit der Zuschreibung negativer Eigenschaften, findet sich bei Glagau bereits in dessen Skizzen Littauen und die Littauer aus dem Jahr 1869. Von einer Schiffsreise berichtet Glagau, das judenfeindliche Narrativ des „Ostjuden“ bedienend, wie folgt:

      »Die Passagiere bestanden größtentheils aus polnischen Juden […]. Das Hauptkleidungsstück der Juden war eine Art von Kaftan, und was sie darunter verbargen, sollte mir bald klar werden, als einer von ihnen ein Stück Zeug hervorholte und davon mitten auf dem Verdeck sich eine Hose zu schneidern begann. Er hatte sein Werk binnen kaum einer Stunde vollendet, aber es war auch das einfachste Beinkleid, das ich je gesehen. […] Weit mehr [als andere Passagiere, d. Verf.] machten die Juden den Capitän zu schaffen. Er schwur, daß Gott sie nur zu seiner Qual habe geboren werden lassen und daß sie ihn noch zu Tode ärgern würden. […] Jetzt begann er das Passagiergeld zu kassiren. Ein Jude nach dem andern suchte sich darum zu drücken, indem sie unter das Deck oder zwischen die Frachtgüter krochen oder doch beständig ihren Platz wechselten. Der Capitän, der ihre Manöver merkte und ihre Kniffe aus Erfahrung kannte, rannte hinter ihnen her; da ihm etliche aber wie Schlangen immer wieder zu entschlüpfen wußten, ward er wüthend und bot die Schiffsmannschaft zu seiner Hilfe auf. Eine allgemeine Treibjagd ging in Scene, die widerwilligen Juden wurden aus allen Winkeln hervorgeholt und gleich einer Heerde Schafe in eine Ecke zusammengetrieben, wo sie dann wohl oder übel den Beutel ziehen mußten.« (Glagau 1869: 45–47)

      Vergleicht man die beiden Textpassagen Glagaus, so wird deutlich, dass der Antisemit den reichen Juden hasst, weil er reich ist und den armen Juden, weil er arm ist. Glagaus Hetze gegen den „assimilierten Westjuden“ wie gegen den „Ostjuden“ illustriert, dass der Antisemit den Juden hasst, „weil er Jude ist“, einzig und allein deshalb, weil er existiert, unabhängig von den Eigenschaften und dem Agieren der konkreten Person, in welcher er „den Juden“ sieht.

      Das Motiv des „raffgierigen Juden“ avancierte zu einem weitverbreiteten Topos und stützte sich auf das bereits bei Luther auftauchende Pejorativum vom „Wucherjuden“ sowie auf Konstrukte des „betrügerischen Juden“, der als Sujet im literarischen Antisemitismus kursierte. In der Erzählung De Stadtreis von Fritz Reuter (1810–1874) überlistet „der Jude“ einen Bauern zu einer Wette, bei der ihm ein Geldstück zum ergaunerten Sieg verhelfen soll: »Smitts Du den Kopp, heww ick gewunnen, / Smittst Du de Schrift, hast du verluren.«

      Das Bild vom „Wucherjuden“ sowie das Narrativ vom einzig und allein am eigenen Vorteil und Gewinn orientierten Juden waren längst vor Glagau verbreitet, der Konnex zwischen dem Kapitalismus als aufstrebender Wirtschaftsordnung und dem Judentum stellt jedoch einen neuartigen Aspekt dar, dessen Verankerung in den nachfolgenden Jahrzehnten dafür sorgte, dass sämtliche modernen Erscheinungen des Kapitalismus wie die Börse, die Deregulierung der Märkte, Unternehmensverbindungen in Gestalt großer Konzerne, Warenhausketten etc. mit „dem Juden“ in Verbindung gebracht wurden, um so von den wahren Ursachen und Triebkräften des Wirtschaftsgeschehens in Zeiten des Hochkapitalismus abzulenken. Existenzängste des Kleinbürgertums wie des Mittelstandes ließen sich so in gezielter Weise antisemitisch kanalisieren.

       1.2Von der konservativen Wende bis zum Ersten Weltkrieg

      Die wirtschaftliche Depression sowie die konservative Wende Bismarcks in den Jahren 1878/79 veränderten die Konstellationen des Antisemitismus in entscheidendem Maß. Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) kündigte das Bündnis mit den Nationalliberalen, suchte den Schulterschluss mit den Konservativen sowie der katholischen Zentrumspartei und setzte auf protektionistische Schutzzollpolitik wie auf innerstaatliche Repression in Gestalt des Sozialistengesetzes. Diese sogenannte „innere Reichsgründung“ stärkte autoritäre Kräfte, die Macht Preußens innerhalb des dt. Staatsgebildes sowie die Rolle der Schwerindustrie und des ostelbischen Agrarkapitals. Da der Antisemitismus u. a. als ideologische Waffe gegen den Liberalismus wie den Freihandel diente, stärkte die konservativ-reaktionäre Wende Bismarcks zugleich auch die antisemitischen Kräfte. Es ist folglich kein Zufall, dass der dt. Journalist Wilhelm Marr (1819–1904) den Terminus „Antisemitismus“ erst um 1879 populär machte. Marrs Schrift Sieg des Judenthums über das Germanenthum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet kam im Erscheinungsjahr 1879 bereits auf zwölf Auflagen. Wie ihr Untertitel verdeutlicht, leistete die Propagandaschrift einen entscheidenden Beitrag zur Transformation des christlichen Antisemitismus in den „Rassenantisemitismus“. Marr steht für einen Paradigmenwechsel in der antisemitischen Ideologie, da er als einer der ersten Schriftsteller gelten kann, der die bislang üblichen Differenzkriterien „Religion“ und „Volk“ durch den Rassebegriff ersetzte. In der Propagandaschrift heißt es:

      »Gerade darin besteht ja die ›Gloire‹ des Judenthums, dass es 1800 Jahre lang der abendländischen Welt den siegreichsten Widerstand leistete. Alle übrigen Einwanderungen in Deutschland sind spurlos im Germanenthum aufgegangen. Wenden und Slaven sind im germanischen Element verschwunden. Die semitische Race, stärker und zäher, hat sie Alle überlebt.« (Marr 1879a: 25)

      Israel sei eine Weltmacht allerersten Ranges geworden und habe, so Marrs Kernthese, einen endgültigen und unumkehrbaren Sieg über das Germanentum davongetragen. Der deutsche Staat und seine Institutionen seien hoffnungslos „verjudet“, kritische Stimmen seien durch die Allmacht des Judentums in der Presse verstummt. Nach einem jahrhundertelangen Kampf hätten die Juden in Deutschland unumstößlich die Macht übernommen, das Ende Germaniens sei das Unvermeidliche, in das sich die Deutschen schicken müssten. Während dem Germanentum die Vergangenheit und das Sterben blieben, gehöre dem Judentum die Zukunft und das Leben. Den schicksalhaften Erfolg der »zersetzenden Mission« des Judentums führt Marr auf die Effekte der Judenemanzipation zurück sowie auf den »ersten großen Sieg des Judentums« in Gestalt der 1848er Revolution. „Die Judenfrage“ sei zur sozialen Kernfrage der Zeit geworden, da sich das Judentum zum sozialpolitischen Diktator über Deutschland aufgeschwungen habe. Immer wieder betont Marr, die Juden seien für ihren welthistorischen Triumph nicht verantwortlich zu machen. Die diesbezüglichen Ausführungen des Journalisten sollten indes keineswegs die Juden in Schutz nehmen, sondern umso stärker die Existenz ihrer „rassischen Wesenszüge“ untermauern. „Der Jude“ agiert bei Marr so, wie es seinem vermeintlichen Wesen entspricht. Die Aussage, dass kein Volk etwas für seine Spezialitäten könne, diente ebenso dazu, „das Germanentum“ zu attackieren, das laut Marr wenig »geistige Widerstandskraft« gegen die »Verjudung« an den Tag gelegt habe. Das Bild des »deutschen Michel« bemühend beabsichtigte Marr, die nichtjüdische Bevölkerung gegen die Juden aufzustacheln. Der „Semitismus“ habe leichtes Spiel gehabt, so dass der »jüdische Geist in alle Poren« der Gesellschaft eingedrungen sei. Millionen Juden würden denken: »Dem Semiten gehört die Weltherrschaft«.

      Marr betont dabei, dass seine dystopische Sichtweise alles andere als ironisch gemeint sei, vielmehr vertrete er ernsthaft die Überzeugung, dass der »Sieg des Judentums« eine vollendete Tatsache darstelle. Folglich sei Resignation die einzig mögliche Haltung, da diese den irreversiblen Sieg der Juden in ihrem dauerhaften Kampf gegen alle Nichtjuden akzeptiere. Eine Interpretation der Schrift, welche die pessimistische Grundhaltung des Textes für die Sichtweise des Autors hält, leitet indes in die Irre. Der resignative Tenor diente Marr lediglich als literarisches Stilmittel, um den aufwallenden Hass seiner Leser noch zu steigern und diese zum Krieg für die „Germanenemanzipation“ aufzurufen. Der vorgetäuschte Pessimismus zielte darauf ab, die Wirkung des indirekten Appells zu erhöhen, das Szenario des Pamphlets nie und nimmer Wirklichkeit werden zu lassen. Anders ließe es sich auch nicht erklären, warum Marr noch im selben Jahr die Antisemitenliga gründete. Die Interpretation der Schrift als agitatorischer Appell, der sich eines dystopisch-resignativen Szenarios bedient, wird durch die noch im selben Jahr erschienene Pendantschrift Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum gestützt, in der Marr unmissverständlich zum »Kampf« aufruft:

      »So muss der Kampf gegen die Verjudung der Gesellschaft […] weiter geführt werden. Möge uns Gott und das Christenthum dann helfen, die Verjudung der


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