Glücksspielstörung. Kai W. Müller

Glücksspielstörung - Kai W. Müller


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um externe therapeutische Hilfe bemühen auf 3 % dieser Betroffenen (Volberg 1999). Für Deutschland beläuft sich dieser Anteil laut einer Erhebung von Bischof et al. (2012), die auf der PAGE-Studie beruhte (Meyer et al. 2011), auf etwa 20 %. Lediglich 9,5 % hatten einen weiterführenden Kontakt zum Hilfesystem.

      In Kapitel 2 haben wir zudem gesehen, dass auch Jugendliche betroffen sind, womöglich bald sogar noch mehr als früher, bedenkt man die rasante Verbreitung internetbasierter Glücksspiele. In der kindes- und jugendpsychiatrischen Versorgung ist das Phänomen Glücksspielstörung allerdings nahezu unbekannt.

      Wie ist diese Lücke, die zwischen Betroffenenzahlen und Inanspruchnahmeraten klafft, zu erklären? Warum suchen offensichtlich belastete Personen keine Hilfe? Eine empirisch gestützte Antwort auf diese Frage existiert nicht. Theoretisch erklärbar ist dieses Paradoxon darüber, dass Betroffene möglicherweise durchaus in Behandlung sind, nur eben nicht wegen des Glücksspielens, sondern wegen damit verbundener psychischer Probleme. In Kapitel 6 werden wir sehen, dass gerade Substanzabhängigkeiten sowie affektive Störungen häufige komorbide Erkrankungen der Glücksspielstörung sind. Möglicherweise also finden Betroffene durchaus therapeutische Hilfe, aber mit einem anderen Schwerpunkt. Eine Anschlussfrage wäre, in wie weit in anderen Behandlungssettings überhaupt ein Thema wie Glücksspiel Beachtung findet?

      Merke: Explorationsbedarf reflekieren

      Falls Sie mit Patienten mit vorwiegend anderen Störungen als Suchterkrankungen arbeiten, lohnt sich gegebenenfalls die Frage, ob Sie, in welcher Form auch immer, psychopathologische »Randerscheinungen«, wie die Glücksspielstörung oder auch internetbezogene Störungen, wie die Computerspielsucht bei Ihren Patienten oder Klienten explorieren.

      Eine andere Erklärung wäre, dass bei vielen Betroffenen die Symptome ohne externe Hilfe remittieren, nach welchem Zeitraum auch immer. Tatsächlich gibt es diverse Studien, die zeigen, dass Remission bei Symptomen der Glücksspielstörung nichts Ungewöhnliches ist. Wer, wann und unter welchen Umständen remittiert, ist dabei allerdings völlig offen und die gängigen Störungsmodelle (image Kap. 7) liefern hierzu ebenfalls keine Erklärungen.

      Falls die Hypothese der Spontanremission zutreffend ist, stellt sich die Frage danach, ob Psychotherapie bei einem ohnehin unbeständigen Phänomen wie der Glücksspielstörung überhaupt sinnvoll ist, schließlich könnte man einfach abwarten. Betrachtet man aber die immense Belastung, denen Betroffene mit einer Glücksspielproblematik und deren Angehörige ausgesetzt sind, liegt auf der Hand, dass Hilfestellungen für diese Menschen unerlässlich sind. Je früher das Störungsgeschehen beendet oder zumindest abgemildert wird, desto besser. Tendenziöse Diskussionen über die Notwendigkeit einer Behandlung sind also gänzlich unangebracht.

      Eine dritte Erklärung liefert die Phänomenologie des Störungsbildes selbst. Eine Glücksspielstörung entwickelt sich nicht schlagartig, sondern in aller Regel schleichend, beginnend mit einem noch lustvollen Spiel, welches sich zunehmend intensiviert und etabliert und schließlich zu vielfältigen Problemen und der Unfähigkeit, davon Abstand nehmen zu können, führt. Damit verbunden sind kognitive Verzerrungen, wie etwa die subjektive Überzeugung, jederzeit das Spielen bleiben lassen zu können – wenn man nur wollte. Dieser Gedanke stellt sicherlich einen prominenten Hinderungsgrund dar, auf externe Hilfe zurückzugreifen. Hodgins und el-Guebaly (2000) erfuhren in einer Befragung von Betroffenen, die sich mittlerweile im Hilfesystem befanden, von über 80 % der Befragten, dass diese lange Zeit versuchten, das Problem aus eigener Kraft in den Griff zu kriegen.

      Die wenigen Studien, die der Frage nach der Therapiemotivation nachgegangen sind, deuten entsprechend auf etwas hin, das man als »Rock-Bottom-Phänomen« bezeichnen könnte. Die meisten Personen, die sich in spezialisierten Beratungsstellen für Glücksspielstörungen vorstellen, erleben in dieser Zeit eine sich akut zuspitzende Krise (Evans und Delfabbro 2005; Productivity Commission 1999). Dieses »ganz unten angekommen sein«, diese akute Krise kann ihren Ursprung in rechtlichen Schwierigkeiten haben, darin, dass dem Partner das Verhalten aufgefallen ist oder dem Arbeitgeber oder dass dem Betroffenen die finanziellen Verbindlichkeiten über den Kopf wachsen oder sich zuletzt ein besonders empfindlicher Verlust im Spiel ereignet hat. Es sind nicht selten akute Auswüchse der Störung, die für Betroffene den Gang zum Hilfesystem ebnen, kurzfristig zumindest, denn auch nach einer ersten Kontaktaufnahme ist nicht garantiert, dass Betroffene im therapeutischen Kontakt bleiben.

      Therapieabbrüche sind in der Behandlung psychischer Störungen keine Ausnahmeerscheinung, allerdings sind sie bei Suchterkrankungen besonders häufig anzutreffen. Laut einer systematischen Literaturübersicht von Melville et al. (2007), bricht ungefähr ein Drittel der Patienten mit einer Glücksspielstörung die Therapie ab. Dabei sind Setting und Art der erhaltenen Psychotherapie unerheblich. Die Übersichtsarbeit, die Daten von insgesamt zehn klinischen Studien auswertete, identifizierte auch Faktoren, die einen Therapieabbruch begünstigen. Hier zeigte sich, dass sozidemografische Variablen keinen Einfluss hatten. Auch komorbide Störungen, die spezifische Form der Glücksspielstörung sowie die Schwere der Symptome wirkten sich nicht auf einen Therapieabbruch aus. Allerdings fanden die Autoren Hinweise darauf, dass bestimmte subklinische Merkmale eine Rolle spielten. Hier waren es insbesondere hohe Ausprägungen der Persönlichkeitsmerkmale Impulsivität und Neurotizismus. Die erlebte Stressbelastung sowie vergleichsweise geringere soziale Unterstützung durch das private Umfeld des Patienten stellten weitere Einflussfaktoren dar, ebenso wie der Chronifizierungsgrad der Störung.

      Merke: Soziale Unterstützung bei Betroffenen mit einer Glücksspielstörung

      In der Praxis und gestützt durch empirische Befunde (Melville et al. 2007) zeigt sich, dass Betroffene mit einer Glücksspielstörung dazu neigen, ihre Problematik vor anderen Menschen geheim zu halten. Häufig sind es Schamgefühle und die Angst vor einer Stigmatisierung, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Nicht selten geben Patienten im therapeutischen Kontakt an, dass bislang niemand von der Glücksspielproblematik eine Ahnung hat. Vor dem Hintergrund, dass eine aus dieser Verheimlichung erwachsende Stressbelastung sowie fehlende soziale Unterstützung Therapieabbrüche begünstigen, ist es im therapeutischen Handeln wichtig, das soziale Umfeld von Patienten in die Behandlung einzubinden. Im ersten Schritt sollte Betroffenen verdeutlicht werden, dass zumindest ausgewählte Menschen aus dem privaten Umfeld über das Problem bzw. dessen tatsächliches Ausmaß in Kenntnis gesetzt werden sollten. Damit einhergehende negative Affekte, wie etwa Ängste und Befürchtungen sowie katastrophisierende Kognitionen sollten vom Behandelnden aufgegriffen und gemeinsam mit dem Patienten einer Realitätsprüfung unterzogen werden. Gerade in der ambulanten Beratung oder Behandlung sollten zudem spezielle Angehörigentermine eingeräumt werden.

      Vorzeitige Therapieabbrüche in der psychotherapeutischen Praxis sind häufig. Erstaunlich, dass nur wenige theoretische Rahmenmodelle existieren, um dieses Phänomen zu erklären. Das Transtheoretische Modell von Prochaska et al. (1992) liefert einen eher veranschaulichenden, weniger aber einen empirisch gestützten Erklärungsansatz. Dieses Modell begreift eine Verhaltensänderung als eine Aneinanderreihung von aufeinanderfolgenden Motivationsphasen. Beginnend ab der Überwindung der Stufe »Vorbewusstwerdung« (Precontemplation), in welcher eine Verhaltensänderung nicht notwendig erscheint, schließt sich der Veränderungsprozess über die Phasen »Bewusstwerdung« (Contemplation), die durch eine ambivalente Haltung in puncto Verhaltensänderung charakterisiert ist, sowie »Vorbereitung« (Preparation), »Handlung« (Action) und »Aufrechterhaltung« (Maintenance) an. Das Modell ist in jedem Fall sehr anschaulich, die getroffenen Annahmen zur Dynamik eines Veränderungsprozesses sehr nachvollziehbar, sodass es sich gut für den Einsatz in der Psychoedukation eignet. Empirisch hat es sich jedoch in der Vorhersage von Therapieabbrüchen nicht bewährt (Callaghan et al. 2005; Herzog et al. 1999).

      Besser geeignet erscheint das von Liese und Beck (1997) formulierte Kognitive Modell des Therapieabbruchs (engl. »Cognitive Model of Dropout«). Es argumentiert, dass


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