Coffin Corner. Amel Karboul

Coffin Corner - Amel Karboul


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Welt wird, desto weniger funktioniert das. Das ist das Paradox: Der Versuch, Sicherheit und Kontrolle herzustellen, führt in einer komplexen Umgebung zu Unsicherheit und Risiko. Wir müssen die reine Effizienz-Orientierung durch eine Vielzahl von Handlungsoptionen ersetzen. Mein Bild dafür ist der Wechsel von einer Autobahn, auf der man immer nur geradeaus fahren kann, zum Anblick des Inneren eines Granatapfels mit unzähligen schillernden Kernen. Diese riesige Auswahl an Möglichkeiten ist komplizert und etwas unübersichtlich – aber auch voller Chancen.

       Sie selbst haben ihr Leben sehr abrupt verändert, als Sie sich 2014 entschieden haben, als Ministerin in die tunesische Übergangsregierung einzutreten. Eine wichtige Erfahrung?

      Absolut. Ich hatte schon länger den Wunsch, mich stärker gesellschaftspolitisch zu engagieren. Ich dachte eigentlich, dass ich mindestens ein halbes Jahr brauche, um den Rücktritt als CEO von Chance, Leadership & Partners vorzubereiten. Meine Vorstellung war ein langsamer Übergang. Dann kam im Januar 2014 der Anruf von Mehdi Jomaâ, dem tunesischen Übergangspräsidenten. Ich hatte zwei Stunden Zeit, mich zu entscheiden, ob ich nach der demokratischen Revolution in Tunesien Tourismusministerin der Übergangsregierung werden will. Nach dieser Entscheidung hat sich mein Leben innerhalb von 24 Stunden komplett geändert. Gleich zu Beginn der Arbeit als Ministerin war ich mit massiven Vorwürfen konfrontiert, weil ich als Beraterin auch in Israel gearbeitet hatte. Das wollten konservative Kräfte zum Skandal machen. Der Schritt in die neue Funktion kam sehr schnell, ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Und das ging. Wir können viel mehr verändern, als wir glauben, in Organisationen und im eigenen Leben.

      Sie haben sich als Ministerin demonstrativ um ein gutes Verhältnis zu Israel und den Juden bemüht und sich damit viel Ärger eingehandelt. Das war auch eine Innovation in der tunesischen Politik, oder?Ja, genau. Das war richtig und notwendig, ich konnte auch einfach nicht anders. Ich weiß, was es heißt, als Angehörige einer Minderheit zu leben. Das verändert den Blick auf andere Minderheiten. Danach bekam ich Morddrohungen und stand 24 Stunden am Tag unter Polizeischutz, ich konnte meine Kinder nur noch selten sehen. Das ist der Preis, den man zahlen muss. Ich bin sicher, dass auch Angela Merkel jetzt Morddrohungen bekommt, weil sie sich für die Füchtlinge einsetzt. Ich bewundere Merkel für ihre klare Haltung.

       Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, USA und Europa verhalten sich wie »geschlossene Gesellschaften«, die sich eigentlich nur wünschen, dass sich nichts ändert. Verhindert Wohlstand Innovation?

      Das ist eine Gefahr. Es gibt ja den berühmten Satz von Steve Jobs: »Stay hungry, stay foolish.« Das ist wahnsinnig wichtig. Unser Wohlstand ist nicht selbstverständlich. Ich bin in Tunesien aufgewachsen. Dort bin ich oft an den Ruinen von Karthago vorbei gefahren, das war auch einmal eine Weltmacht. Wer weiß, ob Europa in 50 oder 100 Jahren noch so reich ist. Vielleicht sind dann viele Europäer Refugees. Ich hoffe es nicht, aber wir wissen nicht, welche Katastrophen und Veränderungen wir noch erleben werden.

       Wie kann man lernen, auf einschneidende Veränderungen mit Innovation zu reagieren?

      Veränderung hat mit einem Perspektivwechsel zu tun. Wir machen bei CLP mit Führungskräften Learning Journeys, bei denen es um solche produktiven Irritationen geht. Es verändert den Blick, wenn Führungskräfte aus Europa sehen, dass eine Fabrik der Metallindustrie in Indien moderner und effizienter ist, als sie es sich vorstellen konnten. Wenn ein Unternehmen über seine China- oder Afrika-Strategie nachdenkt, ist es ein Unterschied, ob man das in Konferenzräumen in Stuttgart oder Zürich bespricht oder ob die Verantwortlichen nach in Kapstadt oder Peking fliegen und dort diskutieren. Auch wenn die Teilnehmer, die Fragestellung, die Faktenlage die gleichen sind, es wird eine andere Diskussion. Es geht immer wieder darum, sich solchen produktiven Irritationen auszusetzen.

       Wie lassen sich diese lehrreichen Irritationen vom Einzelnen auf Organisationen und Unternehmen übertragen?

      Organisationen brauchen Regeln und Routinen, und sie brauchen die Möglichkeit, sie flexibel zu handhaben. Der Unique Selling Point von Menschen ist, dass sie ihre Entscheidungen anders treffen können als regelgesteuerte Maschinen. Menschen setzen Innovation in Gang, nicht Algorithmen. In Zukunft wird es eher um Werte als um Routinen gehen. Müssen Regeln in Unternehmen immer starr und hierarchiegesteuert sein? Das glaube ich nicht. Ich habe zum Beispiel eine Mayo-Klinik besucht, eine der besten Klinik-Ketten in den USA. Ich war beeindruckt davon, wie selbstverständlich es um das Wohl der Patienten geht, und nicht um bis in kleinste geregelt Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten. Die Wirklichkeit ist komplizierter als alle Regelwerke. Und je komplizierter sie wird, desto weniger funktionieren mechanische Regeln. Heute werden in Unternehmen mit einem enormen Aufwand Budgetpläne geschrieben. Oft genug sind sie nach ein, zwei Monaten obsolet. Die Märkte und all die Faktoren, die hineinspielen, kümmern sich nicht um Budgetpläne. Vergesst die Budgetpläne!

       Verhindert die Illusion von Sicherheit und Planbarkeit in unbeweglichen Organisationen die Chancen für Innovation?

      Die Simulation von Planbarkeit war in der alten Industriegesellschaft leichter. Unter Bedingungen einer großen Stabilität war das sicher auch sinnvoll. Bei den disruptiven Veränderungen, die wir jetzt erleben, funktioniert das nicht mehr. Um die systemischen Kräfte zu durchbrechen, braucht es andere Perspektiven. Deshalb ist Diversität so wichtig. Jemand, der zum Beispiel aus einer anderen Kultur kommt oder eine andere Hautfarbe hat, bringt eine andere Perspektive ein. Wenn man einmal zu einer Minderheit gehört hat, hat man einen anderen Blick auf die scheinbar selbstverständliche Normalität. Man sieht im Gleichen etwas anderes.

      Mussten Sie als Ausländerin mit der fehlenden Wertschätzung für Diversität und Blockaden in ihrer Umgebung zurechtkommen?Dauernd. Das war ärgerlich, aber es hat mir auch geholfen. Das schärft den Blick für die Unbeweglichkeit der Apparate. Ein Beispiel: Als ich nach dem Studium für Daimler gearbeitet habe, hat die Ausländerbehörde meine Arbeitserlaubnis nicht verlängert. Ich hatte in Deutschland studiert, ich hatte eine Top-Position im Unternehmen, aber das war der Ausländerbehörde egal. Ich habe meinen Chef panisch angerufen, ich durfte nicht mehr arbeiten, das war´s. Ich habe mich dann in Stuttgart ab- und in Sindelfingen angemeldet, um den Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde zu wechseln. Daimler ist sehr wichtig für Sindelfingen. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, aber in Sindelfingen habe ich eine unbegrenzte Arbeitserlaubnis bekommen. Ohne diese Flexibilität hätte ich das Land verlassen müssen. Das war etwas crazy. Ein anderes Beispiel, diesmal für eine produktive Erfahrung: Ich war für Daimler in Südafrika. Es gab seit Jahren Probleme mit Mitarbeitern und der Arbeitsqualität. Ich habe vorgeschlagen, die Workshops in einer Stammesprache, Xhosa, zu machen. Es stellte sich heraus, dass die Arbeiter schlicht nicht alles verstanden hatten. Vielleicht kommt man nur auf so eine Idee, wenn man einmal in ein Land gekommen ist, dessen Sprache man nicht versteht. Das war eines meiner ersten Projekte, und es war lehrreich. Man kann mit einer kleinen Intervention viel bewegen. Vielleicht fängt genau so oft ein Prozess der Innovation an.

       Beobachten Sie in Unternehmen ab und zu die Mentalität: Was wir machen, hat die letzten 30 Jahre funktioniert, wir machen einfach weiter?

      Absolut. Ich sehe, wie viel verschwendet wird, an Ressourcen und an Möglichkeiten. Ich kenne Unternehmen, die merken, dass die alten Regeln nicht mehr funktionieren. Statt etwas zu ändern, reagieren sie mit Hilflosigkeit. Wir haben ein Medizin-Diagnostik-Unternehmen beraten. Der damalige CEO ist jemand, den ich sehr respektiere. Er hat uns ein Video gezeigt, wie er mit Mitarbeitern in einem Workshop über anstehende Veränderungen redet. Er hat keine Diskussion zwischen den Mitarbeitern in Gang gesetzt. Ich habe ihn gefragt, weshalb er das sehr frontal macht, ohne interaktive Einheiten. Er hat mich angesehen und gesagt, er hätte es nicht gelernt, früher war es nicht üblich. Ich kann ihm das nicht vorwerfen. Im Gegenteil, ich war beeindruckt von der Klarheit, mit der er das benannt hat. Wir müssen immer wieder Räume für den Dialog, für die Begegnung schaffen – nicht, weil es sich gut anfühlt, sondern weil es notwendig ist. Solche Vorschläge werden gerne als Esoterik abgewertet. Aber Followership, die beziehungsorientiert funktioniert, wird so wichtig werden wie Leadership. Das müsste zur Ausbildung von Führungskräften gehören. Ich glaube, viele haben da noch ein echtes Defizit. Die Harvard Business School hat Followership-Kurse


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