Spiritueller Rausch der Lust | Erotischer Roman. Henriette Jade
Daneben lag in einem Rahmen der Nachdruck einer Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert, der die Selbstgeißelung der Katharina von Siena vor dem Kreuz Christi zeigte. Der Rahmen war angegriffen, es gab einige Fehlstellen zu beheben.
Warum Oliver nun gerade an diesen beiden Arbeiten Interesse zeigte und die mittelalterlichen Werke für seinen Club erworben hatte, war mir schleierhaft. Es war schon ungewöhnlich genug, ausgerechnet eine Kirche für einen Erotik-Club anzumieten, aber diesen dann auch noch mit mittelalterlichen Kunstwerken aus Frauenklöstern zu bestücken, schien mir gewagt, fast schon frevelhaft. In Berlin war zwar alles möglich und in Bewegung, immer wieder wurden ungewöhnliche Orte gefunden, um Events zu starten und Partys zu feiern, aber was wollte er mit diesen Werken in einem Nachtclub? Ich spürte, dass ich mich innerlich über diese Entweihung aufregte. Im Mittelalter hatte doch alles einen Bezug zu Gott gehabt. Es war um die geistige Liebe gegangen, die Nonnen und Mönche dem Einen, dem Großen, entgegengebracht hatten. Sie hatten in den Klöstern ein keusches Leben geführt. Und so schwang bei meiner Restaurierungstätigkeit auch immer ein wenig Skepsis hinsichtlich der Verbindung von Klosterkultur und Sex-Business mit. Aber was tat ich nicht alles für den Erhalt historischer Kulturgüter.
Oliver war ganz stolz darauf gewesen, in Italien eine Nachbildung der »Ekstase der Heiligen Theresa von Avila« erwerben zu können, die im 17. Jahrhundert von Bernini in Marmor verewigt worden war. Ich hatte die Statue in die Mitte des Raumes auf einen Sockel stellen lassen, damit ich sie von allen Seiten bearbeiten konnte. Leider waren der Fuß und die Hand von Theresa stark beschädigt. Weniger Arbeit würde mir vermutlich eine Kopie des Holzschnitts mit dem Titel »Aristoteles und Phyllis« von Lucas van Leyden aus dem 16. Jahrhundert machen. Der Holzschnitt zeigte, wie Phyllis auf dem Rücken des Philosophen saß, ihn am Zügel führte und eine Peitsche schwang. Ähnlich wie bei der »Selbstgeißelung« der Katharina von Siena galt es hier, nur den Rahmen zu restaurieren. Und dann war da noch ein letztes Werk, das ich auf eine Staffelei gestellt hatte: »Die Lactatio des heiligen Bernhard von Clairvaux«. Das bunte Ölgemälde von Alonso Cano aus dem 17. Jahrhundert zeigte, wie der Mönch in seinem Mund einen Milchstrahl aus der Brust von Maria empfing. Die Kopie des Originals hatte lange in einem Frauenkonvent in Spanien gehangen und dort einen schwerwiegenden Schaden durch Feuchtigkeit davongetragen.
Für Oliver war es einerlei, wenn nicht alles wieder originalgetreu hergestellt wurde. Als er mir das gesagt hatte, dachte ich nur: du Banause! Alles nur Deko, was? Für ihn ging es lediglich um seinen Club und eine beflügelnde Atmosphäre. Als Restauratorin war ich in diesem Punkt überhaupt nicht seiner Meinung. Für mich waren alle diese mittelalterlichen Kunstobjekte wahre Schätze, die es unbedingt zu erhalten galt, auch wenn es sich nur um Kopien der Originale handelte.
Heute sprach mich das Bild der »Lactatio« besonders an. Ich zog meinen Arbeitskittel an und nahm Pinsel und Spatel zur Hand, schob den Hocker vor die Staffelei und fing mit der Beseitigung von Schmutzablagerungen an.
Nach einiger Zeit hörte ich aus dem Hauptschiff Schritte und Stimmen. Zwei Elektrotechniker unterhielten sich darüber, dass der Altar einem DJ-Pult Platz machen sollte. Tanzfläche, Boxen und Lichtanlage sollten dahin, wo vorher die Holzbänke gestanden hatten. Die zwei Männer standen vor dem Altar und betrachteten Pläne und Skizzen. Dann sah ich Bodo und Adrian in die Kirche kommen. Adrian schob eine Sackkarre in Richtung Krypta, auf die er einen gynäkologischen Stuhl geschnallt hatte. Die Krypta befand sich im mittleren Unterbau der Kirche. Bodo kam hinterher und schleppte ein Andreaskreuz mit schwarzen Lederschlaufen.
Ich schüttelte unmerklich den Kopf und wandte mich schnell wieder meiner Arbeit zu. Wo würde man wohl das Gemälde der »Lactatio« in den neuen Räumlichkeiten hinhängen? Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich mit vierzehn Jahren in Köln konfirmiert worden war und vor der versammelten Gemeinde eine Bibelstelle hatte auswendig vortragen müssen. Mein Sprechen schien mir damals im weiten Kirchenraum eine so große Tragweite zu haben. Und nun? Dröhnende Musik und Lichtanlage.
Die katholische Gemeinde hatte in diesem Stadtteil Berlins anscheinend zu wenige Mitglieder, als dass sich die Bewirtschaftung von zwei Kirchengebäuden finanziell noch tragen ließe. An der Marienkirche war erst der Betreiber von »Torres Tobewelt« interessiert gewesen, der Erlebnisparks für Kinder mit Labyrinth und Hüpfburg einrichtete. Als er abgesprungen war, war der Gemeinde schließlich noch Oliver geblieben. Er hatte den Erhalt der baulichen Substanz und die Übernahme und schonende Nutzung vieler Einrichtungsgegenstände zugesichert, wie etwa der Beichtstühle, sodass er einen Mietvertrag für zunächst drei Jahre bekommen hatte. Er plante, eine Theke zu bauen und ein paar Separees im Seitenschiff einzurichten, und dann sollte es in ein paar Monaten losgehen. Ich widmete mich wieder der Restaurierung. Der Firnis musste runter, er war total vergilbt.
***
Gegen halb vier packte ich meine Sachen zusammen, um meine beiden Kinder von der Kita abzuholen. Draußen trat ich ins Sonnenlicht, schwang mich aufs Rad und gliederte mich in den Berufsverkehr ein.
Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, stellte mein Rad ab und ging zügig auf das Eingangstor zum Kita-Garten zu. Von der Terrasse aus suchte ich mit forschenden Blicken nach meinen Kindern. Meistens sah mich meine fünfjährige Tochter Zoe eher als ich sie. Sie schien ab einer gewissen Uhrzeit mit mir zu rechnen. Und auch heute strahlte mir ihr Gesicht schon entgegen. Als sie zu mir kam, streichelte ich über ihr feines Haar. Sofort kam auch Lukas auf mich zu, der sich gern in der Nähe seiner drei Jahre älteren Schwester aufhielt. Er blickte mich mit seinen braunen Augen schelmisch an.
Die Kinder wollten unbedingt Eis essen gehen. Also sammelten wir die Jacken und Bastelarbeiten aus den Fächern der Garderoben ein, dann ging es zur Eisdiele.
»Mango-Lassi in der Waffel mit Streusel«, sagte Lukas wie aus der Pistole geschossen. Wenn es ihm wichtig war, dann lief er mit seinen zwei Jahren bereits zur Höchstform auf.
Vor dem Laden quetschten wir uns auf eine Holzbank, die von der Sonne beschienen wurde. In der Ferne sah ich eine große, schlanke Frau mit zwei Kindern herankommen. Es war Sonja, die ich aus dem Pekip-Kurs und aus der Kirchengemeinde kannte. Ich winkte ihr zu, und wir begrüßten uns herzlich.
Mit Sonja verband mich ein vertrautes Gefühl, obwohl wir nur locker miteinander befreundet waren. Sie war mir zur Zeit der Trennung von Philip eine gute Freundin gewesen. Philip hatte damals eine neue Frau kennengelernt und sich Hals über Kopf verschossen, da hatte kein Reden und Bitten mehr geholfen. Auch Sonja hatte es kaum fassen können – in ihrer Welt gehörte ein Stein auf den anderen, da hatten blindwütige Affären keinen Raum.
»Wie läuft es mit Philip?«, fragte sie.
Ich zuckte die Schultern. »Hab jetzt ab und an sturmfreie Bude. Die Kinder übernachten regelmäßig bei ihm.«
In der Tat kümmerte sich Philip fürsorglich um die beiden. Ich konnte Sonja berichten, dass ich wenig Grund hatte, mir Sorgen zu machen.
»Allerdings regt er sich auf, wenn ich mal fünf Minuten zu spät bin!«
»Immerhin hast du etwas Zeit. Auch nicht schlecht!«, sagte sie.
»Das stimmt. Und soll ich dir mal was verraten: Seit neuestem date ich wieder. Ich will jetzt endlich den Richtigen finden, auch für die Kinder!«
Überrascht zog Sonja die Augenbrauen hoch. »Echt? Das geht aber fix, mutig, mutig!«
Weil ihre Kinder in der Schlange langsam unruhig wurden, kramte Sonja in ihrem Buggy und fischte zwei Trinkflaschen und Frischhalteboxen mit fein säuberlich geschnittenem Obst und Gemüse heraus. Dadurch wurden die Standards mütterlicher Fürsorge wieder einmal eine Latte höher gehängt. Eine top organisierte Mutter eben und davon gab es am Prenzlauer Berg viele.
Kurze Zeit später verabschiedete sie sich. Pünktlich um achtzehn Uhr wollte sie für ihre Kinder das Abendessen auf dem Tisch haben. Alles perfekt geplant eben. Ich schlug ebenfalls den Heimweg ein.
***
Nach dem Essen leitete ich heute das allabendliche Zu-Bett-Geh-Ritual etwas schneller ein, und las nur zwei Kapitel vom kleinen Drachen Kokosnuss vor, denn ich wollte gleich noch meine E-Mails checken. Doch nachdem ich das Licht gelöscht hatte, klingelte erst einmal das Telefon. Es war meine