Das Medaillon. Gina Mayer

Das Medaillon - Gina Mayer


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weinte nicht oft, aber wenn sie einmal damit angefangen hatte, gab es kein Halten mehr. Ihre Tränen liefen über ihre Wangen und tropften von dort auf das Kopfkissen, das sie immer noch in den Händen hielt. Sie öffnete mehrmals den Mund, um etwas zu sagen, aber dann schloss sie ihn wieder und weinte weiter. Dorothea hörte ihr dabei zu, stumm und ratlos.

      Dann erzählte Rosalie ihr von dem Ausflug ins Neandertal und was dort zwischen ihr und Minter geschehen war und Dorotheas Ratlosigkeit wandelte sich in Fassungslosigkeit. Was hatte Rosalie bloß für Ideen! Mit einem fremden Herrn aufs Land zu fahren, ohne dass ihr Vater davon wusste, und dann diese Sache mit der Höhle, in die sie eingestiegen waren. Jetzt sprach er nicht mehr mit ihr, dieser Minter. Dafür konnte es natürlich viele Gründe geben. Aber einer davon war zwingender und naheliegender und schlüssiger als die anderen.

      »Er macht sich nichts aus mir«, sagte Rosalie mit einer Grabesstimme.

      »Hat er dich umarmt oder du ihn?«, fragte Dorothea. »Unten in der Höhle.«

      »Er ... hat den ersten Schritt getan.«

      Zumindest das, dachte Dorothea erleichtert.

      »Was meinst du?«, fragte Rosalie. Sie suchte in ihrer Schürzentasche nach einem Taschentuch und fand keines, bevor Dorothea ihr ihres geben konnte, hatte sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht gewischt.

      Dorothea zögerte. »Willst du ... würdest du ihn heiraten wollen?«, fragte sie dann.

      Rosalie riss die Augen auf und starrte sie an. »Ihn heiraten? Was für eine Frage! Das ist doch ...« Ihr Blick glitt über Dorotheas Schulter hinweg. Im warmen Licht der Öllampe war ihr Gesicht wunderschön, trotz der verweinten Augen, der geschwollenen Nase. Ihre hohe, weiße Stirn, umrahmt von den immer noch feuchten, schwarzen Locken, die vollen Lippen, die glänzenden Augen.

      »Ja«, sagte sie verwundert.

      Dorothea senkte die Augen und schaute in die Flamme, wo sie am hellsten war. Sie fragte sich, was Rosalie von ihr erwartete. Dass sie ihr riet, was sie tun sollte? Sie hätte sich keine schlechtere Ratgeberin aussuchen können, Dorothea war noch nie verliebt gewesen, alles, was sie über solche Angelegenheiten wusste, hatte sie aus Büchern. Sie war sich nur sicher, dass ihr nicht gefiel, was Rosalie mit diesem Apotheker angefangen hatte, und die Vorstellung, dass sie ihn heiraten könnte, gefiel ihr noch weniger.

      »Aber es ist ja ganz nutzlos«, sagte Rosalie, als habe sie ihre Gedanken gelesen. »Er spricht ja nicht einmal mehr mit mir. Er will mich nicht.«

      »Vielleicht ... hat er eine andere?«, überlegte Dorothea laut.

      »Aber wen?«, meinte Rosalie. »Er ist neu hier in Elberfeld, er kennt doch kaum jemanden.«

      Dorothea zuckte mit den Achseln.

      »Was soll ich tun?«

      »NIchts«, sagte Dorothea schnell. »Du hast genug getan. Warte ab, warte einfach ab.«

      »Wie lange?«, fragte Rosalie.

      Dorothea gab keine Antwort. Das Gesicht des Apothekers tauchte plötzlich vor ihr auf, seine starken, ebenmäßigen Gesichtszüge, das lockige Haar. Einen Moment schwebte das Bild in ihrer Erinnerung, dann verschwand es wieder. Vielleicht war es ja das, was sie so mit Unbehagen erfüllte. Dass dieser Apotheker so schön war. Schön wie der Herr Jesus auf dem See Genezareth. Zu schön, um wahr zu sein.

      Nach Weihnachten kam der Schnee. Dorothea konnte sich nicht erinnern, dass es jemals so kalt gewesen war. Sie ging mit dicken Wollsocken ins Bett und über dem Nachtkleid trug sie ein altes Hemd ihres Vaters, dessen Ärmel weit über ihre Hände fielen, und dennoch wachte sie nachts auf, weil es so kalt war. Sie sehnte sich nach einer Wärmflasche oder nach dem kleinen Hermann, der manchmal nachts zu ihr ins Bett kam, wenn ein böser Traum ihn weckte und er nicht mehr einschlafen konnte.

      Aber in diesen eisigen Nächten kam er nicht, so lag sie allein in der Dunkelheit und spürte die Kälte in ihren Fingerspitzen, es war ein stechender und seltsamerweise heißer Schmerz. Sie dachte an die Handschuhe, die auf der anderen Seite des Raumes auf der Kommode lagen, aber um sie zu erreichen, hätte sie aus dem Bett steigen müssen. Nein, dachte sie und drehte sich auf den Bauch und schob die schmerzenden Finger unter ihren Körper, zwischen Matratze und Unterleib, wo sie sich langsam, ganz langsam erwärmten. Und so machte sie es von nun an jede Nacht, obwohl Diakon Rittershaus im Religionsunterricht gesagt hatte, dass die Hände unter der Bettdecke nichts verloren hätten.

      Die Wohnung der Leders auf der Königsstraße war kalt, aber bei Tante Lioba hinter der Gathe war es noch viel kälter. Walpurga machte morgens Feuer und setzte Tantchen in ihren Lehnstuhl an den Ofen, aber Dorothea hatte den Verdacht, dass sie Lioba oft allein ließ, und dann stand die Alte auf und wanderte durch die drei Räume und verirrte sich dabei und fand ihren Platz am Ofen nicht mehr.

      Mittags ging Dorothea jetzt immer in die Nordstadt und setzte sich eine Viertelstunde, zwanzig Minuten zu Tante Lioba, obwohl sie viel lieber mit Kirschbaum gegessen hätte, in seiner warmen Küche. Auch abends blieb sie länger bei ihr, manchmal kam sie später als Vater und Traugott nach Hause ins Luisenviertel. »Du tust wahrlich Gutes an der Tante«, sagte ihre Mutter voller Stolz und Dorothea senkte die Augen und war kurz davor, alles zu gestehen, aber dann tat sie es doch nicht.

      Jeden Tag erschien ihr Tante Lioba ein wenig kleiner, ein wenig schwächer, ein wenig älter als am Tag zuvor. Aber je mehr sie an körperlicher Kraft verlor, desto mehr schienen ihre geistigen Fähigkeiten zurückzukehren. Sie erinnerte sich wieder öfter an Dinge, an Namen, Gesichter und Ereignisse, und manchmal brachte sie die einzelnen Erinnerungen sogar in einen sinnvollen Zusammenhang. Und das machte Dorothea Angst.

      Denn wenn Tante Liobas Geist zurückkehrte, wenn ihre Verwirrung nachließ, dann würde sie auch merken, dass Dorothea sie betrog. Und früher oder später würde sie sie verraten. Ihre Eltern besuchten die Tante manchmal nach der Kirche, wie würden sie reagieren, wenn Lioba ihnen offenbarte, dass Dorothea nur zweimal am Tag bei ihr auftauchte? Würden sie alles auf die Verwirrtheit schieben oder würden sie misstrauisch werden? Und nachforschen?

      Dorothea hasste sich selbst für diese Gedanken, aber sie wurde sie nicht los. Sie war so erschöpft und zerstreut in diesen Tagen, dass sie immer mehr Fehler machte. Sie füllte die Leihkarten falsch aus und steckte sie dann kopfüber in den Karteikasten zurück, sie ordnete Bücher unter dem Anfangsbuchstaben des Titels in die Regale ein, sie brachte alles durcheinander und war Kirschbaum keine Hilfe mehr. Aber er beklagte sich nie, sondern korrigierte stillschweigend alle ihre Irrtümer, wenn sie ihm auffielen, und das bemerkte sie, und sie schämte sich dafür.

      »Wenn es etwas gäbe, womit ich Ihnen helfen könnte, so würde ich es gerne tun«, sagte er eines Mittags, als sie wieder in ihren Mantel schlüpfte, obwohl es aus dem Hinterzimmer so köstlich nach Essen roch und sie so hungrig war und der Weg in die Nordstadt so weit. Er war gerade aus der Küche nach vorn gekommen und lehnte an dem Schreibtisch, den er Dorothea am ersten Tag angeboten hatte. Sein Ton war ganz beiläufig und ruhig. Sie zögerte einen Moment, während ihre Finger fortfuhren, die Schute unter ihrem Kinn zusammenzubinden. Dann beschloss sie, sich ihm anzuvertrauen, nicht, weil sie wirklich Hilfe von ihm erwartete, sondern weil es ein Wink des Himmels war, eine Gelegenheit, ein bisschen mehr Wahrheit in ihr Leben zu bringen.

      Als sie einmal zu reden begonnen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören, sie erzählte alles, von Tante Liobas Verwirrtheit und von der Kälte in ihrem Haus, von Walpurga, die sich nicht richtig kümmerte, und ihren Eltern, die sich viel zu viel um alles kümmerten, und von ihrer eigenen Angst, dass alles zusammenbrechen könnte und ihre Lügen ans Licht kommen würden.

      »Du liebe Zeit«, sagte er, als sie ihren Bericht beendet hatte. »Warum haben Sie mir das nicht schon früher erzählt?« Er klang dabei ehrlich verwundert, fast bestürzt, so dass auch sie sich unwillkürlich fragte, warum sie bloß so lange geschwiegen hatte.

      »Es ist so, dass ich mich schäme«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Kirschbaum.

      Kirschbaum widersprach nicht, er nickte langsam und dann schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Dennoch begreife ich nicht, warum Sie nicht


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