Die Forsyte Saga. John Galsworthy

Die Forsyte Saga - John Galsworthy


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in Soames Forsytes Gesicht zeigte, hatte sich auch in ihren Reihen ausgebreitet. Sie waren auf der Hut.

      Die unterbewusste Offensivität ihres Verhaltens hat diesen Empfang beim alten Jolyon zum entscheidenden Moment der Familiengeschichte werden lassen, zu dem Vorspiel ihres Dramas.

      Die Forsytes waren über etwas verärgert, nicht als Einzelpersonen, sondern als Familie. Dies äußerte sich in ihrer betont makel­losen Kleidung, einer überschwänglichen Herzlichkeit innerhalb der Familie, einer übertriebenen Betonung der Bedeutung von Familie und – dem Naserümpfen. Was die Forsytes witterten, war Gefahr – so unerlässlich, wenn es darum geht, den grundlegenden Charakter einer jeden Gesellschaft, Gruppe oder Einzelperson zutage zu bringen. Die Vorahnung einer drohenden Gefahr ließ ihre Rüstung erstrahlen. Zum ersten Mal schienen sie als Familie das Gefühl zu haben, mit etwas Unbekanntem und Unsicherem in Verbindung zu sein.

      Drüben am Klavier stand ein großer und fülliger Mann, der zwei Westen über seiner breiten Brust trug, zwei Westen und eine Rubinnadel, statt, wie bei gewöhnlicheren Anlässen üblich, einer Atlasweste und einer Diamantnadel. Sein glattrasiertes, kantiges, altes Gesicht mit seinen hellen Augen und der Haut, die die Farbe hellen Leders hatte, thronte mit seinem ehrwürdigsten Ausdruck über seiner Atlashalsbinde. Dieser Mann war Swithin Forsyte. In der Nähe des Fensters, wo er mehr als genug frische Luft abbekam, brütete sein Zwillingsbruder James mit seinem stets gebeugten Rücken über der Szene. Wie der massige Swithin war er größer als eins achtzig, doch er war sehr schlank, als ob er von Geburt an dazu bestimmt gewesen wäre, den Mittelweg zu finden und den Durchschnitt zu wahren – der alte Jolyon nannte die Brüder den Dicken und den Dünnen. In James’ grauen Augen lag ein Ausdruck von starrer Versunkenheit in einen geheimen sorgenvollen Gedanken, von Zeit zu Zeit unterbrochen, um mit schnellem, wandelndem Blick die wirklichen Geschehnisse um sich herum zu überprüfen. Seine Wangen, die durch zwei parallele Falten schmäler erschienen, und seine breite, glattrasierte Oberlippe wurden von vollen, langen Koteletten umrahmt. In seinen Händen drehte und wendete er eine Porzellanschale. Nicht weit von ihm entfernt stand sein einziger Sohn ­Soames, blass und gut rasiert, dunkelhaarig, ziemlich kahl, und lauschte einer Dame in Braun. Dabei streckte er sein Kinn schräg nach oben und rümpfte seine Nase auf die zuvor beschriebene Art, als ob er ein Ei verschmähe, das ihm ohnehin nicht bekommen würde. Hinter ihm stand sein Cousin, der großgewachsene George, Sohn von Roger, dem fünften Forsyte, mit einem sardonischen Ausdruck auf dem fleischigen Gesicht und dachte über einen seiner boshaften Scherze nach. Irgendetwas in Verbindung mit diesem Empfang hatte sie alle betroffen.

      Drei Frauen saßen dicht nebeneinander in einer Reihe – die Tanten Ann, Hester (die beiden alten Jungfern der Familie Forsyte) und Juley (kurz für Julia), die – auch nicht mehr die Allerjüngste – sich so weit vergessen hatte, Septimus Small zu heiraten, einen Mann von schwächlicher Konstitution. Sie hatte ihn um viele Jahre überlebt. Jetzt lebte sie mit ihrer älteren und ihrer jüngeren Schwester im Haus Timothys, ihres sechsten und jüngsten Bruders, in der Bayswater Road. Alle drei Frauen hatten einen Fächer in der Hand und durch feine Farbwahl oder eine vielsagende Feder oder Brosche drückte jede von ihnen aus, wie feierlich dieser Anlass war.

      In der Mitte des Raumes, unter dem Kronleuchter, stand, wie es sich für einen Gastgeber gehörte, das Oberhaupt der Familie, der alte Jolyon selbst. Mit seinen achtzig Jahren, dem schönen, weißen Haar, der hohen, gewölbten Stirn, den kleinen dunkelgrauen Augen und dem gewaltigen weißen Schnurrbart, der seitlich bis zu seinem kräftigen Kiefer herabhing, hatte er ein patriarchalisches Äußeres, und trotz seines hageren Gesichts und der eingefallenen Schläfen schien er im Besitz ewiger Jugend zu sein. Er hielt sich sehr gerade und seine klugen, wachsamen Augen hatten noch immer ihren strahlenden Glanz. Und so erweckte er den Eindruck, über den Zweifeln und Abneigungen unbedeutenderer Menschen zu stehen. Er hatte ein präskriptives Recht dazu, da er seit unzähligen Jahren das Sagen hatte. Es wäre dem alten Jolyon nie in den Sinn gekommen, dass es angebracht wäre, Zweifel oder Auflehnung auszustrahlen.

      Zwischen ihm und den vier anderen ebenfalls anwesenden Brüdern, James, Swithin, Nicholas und Roger, gab es sowohl große Unterschiede als auch viele Ähnlichkeiten. Jeder dieser vier Brüder war wiederum ganz anders als der andere, und dennoch waren auch sie sich sehr ähnlich.

      Bei all den unterschiedlichen Gesichtszügen und -ausdrücken dieser fünf Personen ließ sich doch bei allen eine gewisse Entschlossenheit des Kinns feststellen, die den äußeren Unterschieden zugrunde lag, ein Stempel ihrer Art, der so prähistorisch war, dass man ihn nicht mehr zurückverfolgen konnte, so subtil und immerdar, dass man nicht darüber sprechen konnte – Qualitätszeichen eines echten Forsyte und Garant für Erfolg und Wohlstand der Familie.

      Unter der jüngeren Generation, dem großen, bulligen George, dem blassen, energischen Archibald, dem jungen Nicholas mit seiner liebenswerten, zaghaften Hartnäckigkeit und dem ernsten, fast schon lächerlich unbeirrbaren Eustace, gab es diesen Stempel ebenfalls - vielleicht etwas weniger deutlich, aber dennoch unverkennbar. Es war ein Zeichen von etwas Unauslöschlichem in der Seele der Familie. Immer wieder im Laufe dieses Nachmittags konnte man in all diesen so unterschiedlichen wie ähnlichen Gesichtern einen Ausdruck von Misstrauen erkennen und das galt zweifellos dem Mann, dessen Bekanntschaft zu machen sie hier zusammengekommen waren. Philip Bosinney war bekanntermaßen ein junger Mann ohne Vermögen, doch es hatte schon zuvor Verlobungen und auch Hochzeiten zwischen Mädchen der Familie Forsyte und solchen Männern gegeben. Das war also nicht der Grund, warum die Forsytes Schlimmes befürchteten. Sie hätten nicht erklären können, was die Ursache ihres unguten, durch das Gerede in der Familie vernebelten Gefühls war. Es hieß auf alle Fälle, er habe bei seinem Anstandsbesuch bei den Tanten Ann, Juley und Hester einen weichen grauen Hut getragen – einen weichen grauen Hut, noch nicht mal einen neuen, ein staubiges altes Ding ohne jede Form. »So sonderbar, meine Liebe – so seltsam«, Tante Hester habe versucht es von einem Stuhl zu scheuchen, als sie durch den schmalen, dunklen Flur ging (sie war ziemlich kurzsichtig), denn sie habe es für eine dreckige streunende Katze gehalten – Tommy habe so beschämende Freunde! Sie sei ganz verstört gewesen, als es sich nicht bewegte.

      So wie ein Künstler immer auf der Suche nach dieser wesentlichen Kleinigkeit ist, die den gesamten Charakter einer Szene, eines Ortes oder einer Person ausmacht, so hatten sich jene unbewussten Künstler – die Forsytes – intuitiv auf diesen Hut eingeschossen. Er war ihre wesentliche Kleinigkeit, das Detail, in dem die Bedeutung der ganzen Sache lag. Denn jeder von ihnen hatte sich selbst gefragt: »Also bitte, hätte ich so einen Besuch mit so einem Hut gemacht?« Und die Antwort war immer: »Nein!« Diejenigen mit etwas mehr Fantasie hatten noch hinzugefügt: »Das wäre mir nie in den Sinn gekommen!«

      Als George die Geschichte hörte, grinste er. Dieser Hut war ganz offensichtlich als Witz gemeint gewesen! Er selbst war Experte auf diesem Gebiet. »Der traut sich was«, sagte er, »der wilde Pirat!«

      Und diese scherzhafte Bezeichnung, »der Pirat«, ging von Mund zu Mund, bis es die bevorzugte Art war, auf Bosinney anzuspielen.

      Ihre Tanten machten June danach Vorwürfe wegen des Hutes.

      Sie sagten: »Wir finden, du hättest ihn den nicht tragen lassen dürfen!«

      June hatte darauf auf ihre herrische, energische Art geantwortet, ganz wie der Ausbund an Willenskraft, der sie war: »Ach! Was soll’s? Phil weiß doch nie, was er anhat!«

      So eine unerhörte Antwort hatte niemand glauben können. Ein Mann, der nicht wissen sollte, was er anhatte? Nein, nein! Was war denn dieser Mann schon, der mit seiner Verlobung mit June, der anerkannten Erbin des alten Jolyon, eine so gute Partie gemacht hatte? Er war Architekt, das alleine rechtfertigte nicht, so einen Hut zu tragen. Keiner der Forsytes war selbst Architekt, aber einer von ihnen kannte zwei Architekten, die niemals einen solchen Hut zu einem feierlichen Anlass während der Londoner Saison tragen würden.

      Gefährlich – sehr gefährlich! June hatte das natürlich nicht verstanden, aber sie war ja auch, obwohl sie noch keine neunzehn war, für derartiges Verhalten bekannt. Hatte sie nicht zu Soames’ Frau, die immer so stilvoll gekleidet war, gesagt, Federn seien geschmacklos? Soames’ Frau trug seitdem tatsächlich keine Federn mehr, so schrecklich direkt war die gute June!

      All diese Bedenken,


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