Der Glöckner von Notre Dame. Victor Hugo
Straße Verdelet abhob.
Seit einigen Augenblicken hatte er die Aufmerksamkeit des jungen Mädchens erregt; sie hatte zu wiederholten Malen voll Unruhe den Kopf nach ihm umgewandt; sie war sogar einmal ganz kurze Zeit stehen geblieben, hatte einen Lichtstrahl, der aus einem halbgeöffnetem Bäckerladen drang, benutzt, um Gringoire festen Blickes von oben bis unten zu betrachten; dann hatte er sie jenes schiefe Gesichtchen ziehen sehen, das er schon kannte, und worauf sie weiter gegangen war.
Dieses schiefe Mäulchen gab Gringoire zu denken. Deutlich war Verachtung und Spott in ihrer reizenden Grimasse zu erkennen. Schon begann er das Haupt sinken zu lassen, die Pflastersteine zu zählen und dem jungen Mädchen aus etwas weiterer Ferne zu folgen, als er an einer Straßenecke, wo er sie eben aus dem Gesicht verloren hatte, einen durchdringenden Schrei von ihr ausstoßen hörte.
Er beschleunigte seinen Schritt.
Die Straße war voll nächtlicher Finsternis. Eine Thranlampe jedoch, die hinter einem Drahtgitter, zu Füßen eines Mutter-Gottesbildes an der Straßenecke brannte, ließ Gringoire die Zigeunerin erkennen, die sich in den Armen zweier Männer sträubte, welche sich bemühten, ihr Geschrei zu ersticken. Die arme kleine Ziege senkte erschreckt die Hörner und blökte.
»Zu Hilfe, Wächter!« schrie Gringoire und eilte muthig vorwärts. Einer der Männer, welcher das junge Mädchen festhielt, wandte sich nach ihm um. Es war die furchtbare Gestalt Quasimodo's.
Gringoire ergriff die Flucht nicht, aber er that keinen Schritt weiter vorwärts.
Quasimodo kam auf ihn los, warf ihn mit einem Schlage seiner Hand vier Schritte weit aufs Pflaster, dann eilte er schleunig in die Dunkelheit zurück und trug das junge Mädchen, das er wie eine seidne Schärpe über einen Arm gelegt hatte, davon. Sein Genosse folgte ihm, und die arme Ziege lief mit kläglichem Blöken hinter allen drein.
»Mörder! Mörder!« schrie die unglückliche Zigeunerin.
»Halt da, ihr Elenden, und laßt mir diese Dirne los!« rief auf einmal mit Donnerstimme ein Reiter, der plötzlich aus der nächsten Gasse hervorbrach.
Es war ein Hauptmann der Bogenschützen von des Königs Ordonnanz, von Kopf bis zu Fuß bewaffnet, und mit dem Degen in der Hand. Er riß die Zigeunerin aus den Armen des bestürzten Quasimodo und legte sie quer über seinen Sattel weg; und in dem Augenblicke, wo der furchtbare Bucklige von seinem Staunen zurückgekommen war und sich auf ihn stürzte, um ihm seine Beute wieder zu entreißen, erschienen fünfzehn bis sechzehn Schützen, die ihrem Hauptmanne mit dem Pallasch in der Hand auf dem Fuße nachfolgten. Es war eine Rotte von der Königswache, welche auf Befehl des Herrn Robert von Estouteville, Kommandanten des Sicherheitsdienstes von Paris, die Ronde machte.
Quasimodo wurde umringt, festgenommen, geknebelt; er brüllte, schäumte, biß um sich; und wäre es heller Tag gewesen, ohne Zweifel hätte allein sein Gesicht, das durch die Wuth noch gräßlicher geworden war, die ganze Rotte in die Flucht geschlagen. Aber des Nachts war ihm seine fürchterlichste Waffe genommen: – seine Häßlichkeit.
Sein Gefährte war während des Kampfes verschwunden.
Die Zigeunerin richtete sich mit Anstand auf dem Sattel des Offiziers in die Höhe; sie stützte ihre beiden Arme auf die Schultern des jungen Mannes und sah ihn einige Augenblicke starr an, gleichsam erfreut über sein angenehmes Aeußere und über die Hilfe, welche er ihr soeben gebracht hatte. Dann brach sie zuerst das Schweigen und sagte zu ihm, indem sie ihre sanfte Stimme noch sanfter machte:
»Wie heißt Ihr denn, Herr Ritter?«
»Kapitän Phöbus von Châteaupers, Euch zu dienen, meine Schöne!« antwortete der Offizier und wandte sich um.
»Habt Dank,« sagte sie.
Und während der Kapitän Phöbus seinen nach burgundischer Weise gestutzten Schnurrbart in die Höhe strich, ließ sie sich wie ein Pfeil, der zur Erde fällt, vom Pferde herabgleiten und entfloh.
Ein Blitzstrahl würde nicht so schnell verschwunden sein.
»Beim Nabel des Papstes!« sagte der Kapitän und ließ die Fesseln Quasimodo's fester anziehen, »ich würde das Frauenzimmer lieber behalten haben.«
»Was meint Ihr, Kapitän?« fragte ein Reiter; »die Grasmücke ist davongeflogen, die Fledermaus ist zurückgeblieben.«
5. Weitere Unannehmlichkeiten.
Gringoire war von seinem Falle ganz betäubt auf dem Pflaster, vor dem Marienbilde an der Ecke der Straße, liegen geblieben. Nach und nach bekam er seine Besinnung wieder; er war anfangs einige Minuten schwankend, in einer Art Halbschlaf, der nicht unangenehm war, und in welchem sich die luftigen Gestalten der Zigeunerin und der Ziege mit der wuchtigen Faust Quasimodo's verwebten. Dieser Zustand währte nicht lange. Ein ziemlich starkes Gefühl von Kälte an demjenigen Theile seines Körpers, welcher mit dem Pflaster in Berührung stand, weckte ihn plötzlich, und ließ seinen Geist an die Oberfläche zurückkommen.
»Woher kommt denn diese Kühle?« fragte er sich hastig. Jetzt bemerkte er erst, daß er ein bißchen in der Mitte der Gosse lag.
»Teufelskerl von buckligem Cyklopen!« murmelte er zwischen den Zähnen und wollte sich erheben. Aber er war zu betäubt und zu zerschlagen. Er war gezwungen, auf dem Platze liegen zu bleiben. Er hatte übrigens die Hand ziemlich frei; er hielt sich die Nase zu und ergab sich in sein Geschick.
»Der Koth von Paris,« dachte er (denn er glaubte ganz sicher, daß sein Nachtlager in der Gosse sein würde;
›Und was in einem Bett anfangen, es wär' denn, daß man träumt'?‹) –
»der Koth von Paris ist besonders stinkend; er muß viel flüchtiges und salpetriges Salz enthalten. Uebrigens ist das die Meinung von Meister Nikolaus Flamel und der Alchymisten ...«
Das Wort »Alchymisten« brachte plötzlich den Gedanken an den Archidiaconus Claude Frollo vor seine Seele. Er rief sich den heftigen Auftritt, den er vor kurzem mit angesehen hatte, zurück; wie die Zigeunerin zwischen zwei Männern sich sträubte; daß Quasimodo einen Gefährten hatte; und die mürrischen und hochmüthigen Züge des Archidiaconus zogen undeutlich vor seiner Erinnerung vorüber. »Das wäre seltsam!« dachte er. Und er begann mit dieser Thatsache das phantastische Gebäude seiner Vermuthungen, das philosophische Kartenhaus auf dieser Unterlage aufzubauen; dann kam er sogleich wieder auf die Wirklichkeit zurück und rief: »Nun ja, ich erfriere!«
Der Platz wurde in der That immer weniger haltbar. Jedes Wassertheilchen der Gosse nahm einen Wärmetheil aus den Nieren Gringoire's fort, und das Gleichgewicht zwischen der Temperatur seines Körpers und derjenigen der Gosse begann sich in einer empfindlichen Weise herzustellen.
Ein Verdruß ganz anderer Art sollte ihn plötzlich packen.
Ein Haufe Kinder, jener kleinen barfüßigen Wilden, die zu allen Zeiten das Pariser Pflaster unter dem ewigen Namen »Gassenjungen« getreten, und die, als wir gleichfalls Kinder waren, uns alle, wenn wir nachmittags aus der Schule kamen, mit Steinen geworfen haben, weil unsere Hosen nicht zerrissen waren, – ein Schwarm jener jungen Taugenichtse lief nach der Gasse zu, wo Gringoire lag, unter Lachen und Geschrei und anscheinend ohne die geringste Sorge um den Schlaf der Nachbarn. Sie zerrten eine Art unförmlichen Sack hinter sich her; und allein das Geräusch ihrer Holzschuhe hätte einen Todten erwecken können. Gringoire, welcher es noch nicht ganz war, richtete sich mit halbem Körper in die Höhe.
»Heda! Hennequin Dandèche, heda! Johann Pincebourde!« schrien sie aus Leibeskräften, »der alte Eustache Moubon, der Eisenhändler an der Ecke, ist soeben gestorben. Wir haben seinen Strohsack, wir wollen damit ein Freudenfeuer machen. Heute gilt's den Flamländern!«
Und da! warfen sie den Strohsack gerade auf Gringoire drauf, in dessen Nähe sie, ohne ihn zu sehen, gekommen waren. Zu gleicher Zeit nahm einer von ihnen eine Hand voll Stroh, welches er an der Lampe des Mutter-Gottesbildes anzünden wollte.
»Alle Teufel!« brummte Gringoire, »ich soll wohl noch recht in Schweiß gerathen?«
Der