Mami 1979 – Familienroman. Anna Sonngarten

Mami 1979 – Familienroman - Anna Sonngarten


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Nest den ganzen Tag auf dich warten und in der Zwischenzeit die Hirschgeweihe an der Wand abstauben?« Diese entrüstete Entgegnung war zur Familienanekdote geworden, und bei jeder passenden Gelegenheit kamen die Hirschgeweihe wieder zur Sprache. Nein, Mechthild konnte dem Landleben nichts abgewinnen. Sie brauchte Stadtluft, um sich wohl zu fühlen. Mechthild betrachtete die Ansichtskarte. Es waren mehrere kleine Ortschaften darauf abgebildet. Allesamt sehr idyllisch gelegen in einer hügeligen, bewaldeten Landschaft. Den Ort Thalberg hatte Hanna mit einem Kreuz versehen. Mechthild las, was ihre Tochter geschrieben hatte:

      Liebe Mutti! Hier ist es wunderschön. Ich habe das Haus meiner Träume gefunden. Wenn Du es erst siehst, wirst Du mich verstehen. Bitte komm uns so bald Du kannst besuchen! Wir freuen uns auf Dich. Deine Hanna und die Kinder.

      Die Karte war auch mit den krakeligen Namen der Kinder unterschrieben, und die kleine Kira hatte noch ein paar Blümchen gemalt.

      Mechthilds Stimmung besserte sich plötzlich zusehends. Sie schaute sich noch mal die Ansichtskarte an und sagte zu Jakob:

      »Was hältst du von einer kleinen Reise mit dem Zug, Jakob?« Jakob legte den Kopf schief und gab ein zufriedenes Krächzen von sich.

      *

      Am Abend vor Simones Abreise sagte die Freundin plötzlich: »Weißt du, was ich mir überlegt, habe, Hanna?«

      »Nein, schieß los!«

      »Ich habe im August noch zwei Wochen Urlaub. Eigentlich wollte ich nach Kreta, aber jetzt könnte ich mir auch gut vorstellen, meinen Urlaub hier zu verbringen. Falls du einverstanden wärst.«

      »Das ist eine großartige Idee, Simone«, rief Hanna erfreut. »Natürlich bin ich einverstanden. Ich wußte doch, daß es dir hier gefällt. Ich glaube manchmal, daß du mich in Wahrheit beneidest«, vermutete Hanna.

      »Na ja, um das Haus beneide ich dich schon, auch um deine Kinder und um deinen Mut, deine Träume zu verwirklichen…«, sagte Simone mit plötzlichem Ernst.

      »Gut, gut… ich wollte nicht nach Komplimenten fischen«, antwortete Hanna schnell. »Wir wissen beide, wo uns das Glück im Stich gelassen hat, mich genauso wie dich.« Hanna zog die Beine hoch und schlang die Arme um ihre Knie. Sie schaute Simone nachdenklich an. Die letzten Tage waren so ausgefüllt gewesen, daß die Dinge, die hinter ihr lagen, schon fast vergessen schienen. Doch natürlich war in Wirklichkeit nichts vergessen, und die Bilder der letzten Wochen mit Bernd tauchten so plötzlich vor ihrem geistigen Auge wieder auf, wie sie vorübergehend verschwunden waren. Aber auch Simone hatte ihren Kummer. Sie war beruflich zwar erfolgreich, aber privat fand sie nicht das erhoffte Glück. Der Mann fürs Leben war ihr noch nicht begegnet. Es wird daran liegen, daß ich nicht gerade eine Schönheit bin, dachte sie. Doch Hanna hatte sie stets ausgelacht, wenn sie davon anfing. »Du hast ein Charaktergesicht, Simone. Und wenn du lachst, muß man einfach mit einstimmen, so ansteckend ist es.« Simone lächelte. Sie freute sich immer, wenn Hanna so etwas sagte, aber insgeheim dachte sie, daß Hanna halt ein guter Mensch war, der einer Freundin etwas Nettes zu sagen wußte, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie gingen zeitig ins Bett, denn Simone wollte am nächsten Morgen früh los.

      *

      »Ich will mit meinem eigenen Fahrrad fahren, Mama«, sagte Kira, verschränkte die Ärmchen vor der Brust und sah ihre Mutter mit Schmollmund an. Nils kurvte auf dem schmalen kurzen Feldweg von ihrem Haus bis zur Straße hin und her. »Wann geht’s endlich los?« fragte er zum wiederholten Mal. »Nils darf ja auch mit seinem eigenen Fahrrad fahren«, maulte Kira weiter.

      »Schätzchen, das ist nicht dasselbe. Nils fährt schon viel länger allein. Er ist doch auch älter. Er kommt schon bald in die Schule. Wenn du in die Schule kommst, kannst du auch allein Fahrrad fahren«, versuchte Hanna ihre kleine Tochter zu überzeugen.

      »Da steig’ ich nicht drauf«, sagte sie mit entschlossener Miene auf den Fahrradsitz deutend.

      »Weißt du eigentlich, daß ganz in unserer Nähe ein Reiterhof ist? Da wollte ich mal mit euch hin. Vielleicht haben die auch Ponys, auf denen du mal reiten kannst. Was meinst du?«

      Kiras Miene hellte sich auf.

      »Wirklich?« fragte sie und kam einen Schritt näher.

      »Wann kommt ihr denn endlich?« fragte Nils, der wieder eine Runde gedreht hatte.

      »Wir kommen«, rief Kira und ließ sich von Hanna ohne Widerstand in den Sitz heben.

      Endlich konnte es losgehen. Hanna wollte erst einmal ins Dorf fahren. Der Weg dorthin führte über eine schmale gewundene Straße. In weniger als fünf Minuten erreichten sie den Marktplatz, das Zentrum von Thalberg. Die gepflegten Häuser, die sich im Rund um den Marktplatz gruppierten, standen allesamt unter Denkmalschutz. Im Erdgeschoß einiger Häuser befanden sich die wenigen Geschäfte. Hanna ging mit den Kindern zum Bäcker und zum Obsthändler, um für ihren kleinen Ausflug etwas Proviant einzukaufen.

      Sie wurden überall freundlich empfangen. Sybille Meyer, die Bäckerin gab den Kindern je ein Brötchen umsonst, und Herr Biermann steckte ihnen zwei Äpfel mehr zu. Auf dem Weg Richtung Gut Steinbeck, von dem Hanna schon gehört hatte, kamen sie an der Tierarztpraxis vorbei. Da der Jeep nicht vor der Tür des großen alten Hauses stand, vermutete Hanna, daß der Tierarzt unterwegs sei. Deshalb hielt sie und schaute sich das Anwesen ein bißchen genauer an. Im hinteren Teil des Gartens sah sie im kniehohen Gras eine Schaukel und eine Rutsche stehen, die aber offensichtlich schon lange nicht mehr benutzt wurden. Auf dem Praxisschild las sie.

      Dr. Michael Hollstein

      Tierarzt

      Kleintiersprechstunde nur nach Vereinbarung

      »Was steht da, Mama?« fragte Nils, der das Interesse seiner Mutter nicht recht verstand. Sie hatten schließlich kein Tier, obwohl sich Nils schon lange einen Hund wünschte.

      »Nichts weiter. Aber offenbar behandelt der Tierarzt nicht nur Nutztiere wie Schweine und Rinder. Wenn man einen kranken Hamster hat, kann man auch zu ihm kommen.«

      »Können wir nicht einen Hund haben, Mama?« fragte Nils und hörte seine Mutter zu seiner unglaublichen Überraschung »Ja« sagen.

      »Wirklich!« rief Nils ganz aufgeregt und konnte den Lenker seines Rades gar nicht stillhalten. So fuhr er gefährliche Schlangenlinien.

      »Paß auf, Nils!« rief Hanna, die beinahe gestürzt wäre.

      »Wann? Wann können wir einen Hund haben?« fragte Nils aufgeregt.

      »Ich wollte mich in der nächsten Zeit mal nach einem Hund erkundigen. Vielleicht hat irgendein Bauer hier in der Nähe Welpen. Wir wohnen so abgelegen, daß mir ein Hund im Haus ganz sinnvoll erscheint«, teilte Hanna ihre Überlegungen mit.

      »Dann will ich aber auch ein Tier«, sagte Kira.

      »Der Hund soll uns allen gehören, Kira«, erklärte Hanna.

      »Ich will aber ein eigenes Tier«, beharrte Kira. Zum Glück sahen sie in dem Moment auch schon das Pferdegut Steineck, und Hanna konnte die Diskussion über Haustiere vertagen. Sie stellten ihre Räder außerhalb des Hofes ab und gingen dann hinein. Hanna sah sofort den Jeep des Tierarztes. Er war also ebenfalls auf Gut Steineck zu Besuch, aber sicherlich dienstlich. Hanna hielt Ausschau nach ihm. Tatsächlich konnte sie ihn bei den Ställen im Gespräch mit einer schönen dunkelhaarigen Frau sehen. Hanna hörte das helle Lachen der Frau und fragte sich, wer sie wohl sei. Sie nahm Kira auf den Arm und Nils an die Hand. Sie wollte sich erst beim Gutsbesitzer oder dessen Verwalter vorstellen, um abzuklären, ob es recht wäre, wenn sie sich auf dem Hof ein wenig umsahen. Offenbar fiel Hanna durch ihre Unschlüssigkeit auf, und zu ihrer Überraschung pfiff die dunkelhaarige Schönheit

      auf zwei Fingern und rief dann laut:

      »Uwe! Komm mal!« Dann wandte sie sich Hanna zu und rief kurz: »Da kommt gleich jemand.«

      Michael hatte Hanna und ihre Kinder sofort erkannt und schaute verstohlen zu ihnen herüber. Sollte er sich vorstellen und sein merkwürdiges Verhalten von vor einigen Tagen entschuldigen? Er entschied dagegen. Vielleicht


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