Sophienlust Extra 9 – Familienroman. Gert Rothberg
»Nein, nein, ihr könnt diesmal nicht mitfahren!«, rief Andrea von Lehn lachend, als sich die vier Dackel Waldi, Hexe, Pucki und Purzel um sie drängten. »Nur Severin wird mich nach Maibach begleiten«, fügte sie hinzu und öffnete die Autotür, damit die schwarze Dogge hineinspringen konnte. Stolz legte sich Severin auf den hinteren Sitz.
Waldi legte die Ohren zurück und lief mit eingezogenem Schwanz davon.
Die Dackeline Hexe wartete noch einen Augenblick in der Hoffnung, dass es sich ihr Frauli doch anders überlegen würde. Aber dann schien sie zu begreifen, dass sie ihr Köpfchen nicht durchsetzen konnte. Sie folgte nun ihrem Dackelmann. Die beiden jungen Dackel Pucki und Purzel sprangen bereits wieder vergnügt auf der Wiese umher.
Dr. Hans-Joachim von Lehn kam aus dem Haus. »Andrea, hier habe ich noch eine Liste von Medikamenten, die du mir unbedingt mitbringen musst.«
»Das werde ich tun.« Andrea erwiderte den Blick ihres Mannes verliebt. »Wirst du ohne mich in der Praxis zurechtkommen? Gerade heute ist das Wartezimmer voll von kleinen Patienten.«
»Keine Sorge, mein Schatz, ich werd’s schon schaffen«, erklärte er fröhlich. »Fahr bitte vorsichtig und parke richtig. Sonst bekommen wir wieder einen Strafzettel.«
»Ich werde daran denken«, entgegnete sie sorglos. »Um diese Jahreszeit ist der Fremdenverkehr nicht mehr so stark. Ich werde bestimmt einen Parkplatz bekommen.« Sie winkte ihm zu und stieg in den Wagen.
Lachend kehrte der junge Tierarzt ins Haus zurück. Natürlich würde Andrea ihm heute Nachmittag fehlen, denn sie war sehr beliebt bei seinen vierbeinigen Patienten und auch bei ihren Besitzern. Zudem war sie eine tüchtige Assistentin, die ihm eine unentbehrliche Hilfe geworden war. Hans-Joachim war sehr glücklich, und er würde alles tun, dieses Glück seiner Ehe auch zu erhalten. Er öffnete die Tür zum Wartezimmer und rief: »Der Nächste, bitte!«
Ächzend erhob sich eine rundliche Dame mit hochroten Wangen. Zärtlich presste sie einen dicken Mops an ihren mächtigen Busen. »Guten Tag, Herr Doktor«, begrüßte sie den Arzt. »Mein Liebling ist seit Tagen ohne Appetit und lehnt selbst jeden Leckerbissen ab. Hoffentlich ist er nicht ernstlich krank!«
»Das werden wir gleich feststellen, liebe Frau Heimann«, erwiderte Hans-Joachim und nahm ihr den Hund ab.
Andrea fuhr währenddessen die von alten Kastanienbäumen gesäumte Landstraße entlang. Noch weilten ihre Gedanken bei ihrem Mann. Hoffentlich wird er auch tatsächlich ohne mich fertig, überlegte sie. Er verlässt sich doch in vielen Dingen ganz auf mich und weiß oft nicht, wo die Medikamente liegen. Aber ich werde mich beeilen. Vielleicht kann ich schon in einer Stunde wieder zurück sein.
Die ersten Häuser von Maibach tauchten jetzt auf. Kurz darauf bog Andrea in die Straße ein, die zum Marktplatz führte. Vor einem der schönen alten Giebelhäuser fand sie noch einen Parkplatz mit Parkuhr. Sie steckte ein Geldstück in den Schlitz und rief dann nach Severin. Die Dogge kam sofort angesprungen und wedelte freudig mit ihrer langen spitzen Rute. »Bleib schön bei Fuß, Severin«, bat Andrea und fuhr dem Hund liebevoll über den Kopf. Brav blieb Severin vor jedem Geschäft sitzen, das Andrea betrat, um einzukaufen.
»Severin, sitz!«, rief Andrea vor der Löwenapotheke und wandte sich um. Die Dogge blieb jedoch stehen, streckte den Kopf vor und lauschte. Dann schoss sie davon, hinein in eine Seitengasse.
»Severin! Severin!«, rief Andrea verärgert. Sie pfiff, aber der Hund kam nicht zurück. »Na, so was«, murmelte sie erstaunt. »Sicherlich hat er den aufregenden Duft einer läufigen Hündin in die Nase bekommen und glaubt nun, ihren Spuren folgen zu müssen.«
Andrea nahm sich vor, Severin gründlich die Leviten zu lesen, und bog in die Gasse ein, in der er verschwunden war. Schon von weitem hörte sie die Dogge kläffen, doch sie konnte sie nirgends sehen.
Andrea eilte weiter und bog in eine andere Seitenstraße ein. Da entdeckte sie den Hund. Er stand mitten auf der Straße und gebärdete sich wie toll.
»Severin! Komm her!«, rief Andrea aufgebracht. Der Hund drehte sich um und kam auf sie zugerannt. Doch auf halber Strecke kehrte er wieder um und bellte von neuem.
Inzwischen waren einige Leute aus den Häusern gekommen. Sie erreichten das Loch, in das Severin hineinbellte, zur gleichen Zeit wie Andrea. Es war ein Gully. Der Deckel lag daneben. Bauarbeiter hatten vergessen, ihn wieder auf den Gully zu legen.
»Mein Gott!«, rief eine der Frauen entsetzt. »Da unten hockt ja ein Kind!«
Andrea beugte sich vor und entdeckte auf dem Grund des Gullys in Schlamm und Wasser ein kleines Mädchen. Auch die anderen Leute schauten hinunter. Ein Polizist befand sich unter ihnen. Er rief: »Ich hole sofort Hilfe.«
Wie gebannt blickte Andrea noch immer hinunter, dann rief sie: »Bleib ganz still! Du wirst sofort heraufgeholt.«
Die großen blauen Kinderaugen schauten nach oben. Entsetzen war darin zu lesen, Entsetzen und Todesangst.
Schon hielt ein Streifenwagen neben dem Gully, Polizisten sprangen heraus. Dann ging alles sehr schnell. Das zitternde und verschmutzte kleine Mädchen stand gleich darauf neben der Dogge, die sich an das kleine Wesen herandrängte.
»Ich kümmere mich um das Kind«, bot Andrea an.
»Die Dogge hat das Kind gefunden!«, rief ein halbwüchsiger Junge.
»Sie hat ihm das Leben gerettet.«
»Ja, so ist es!« Alle blickten nun bewundernd auf den riesigen schwarzen Hund.
»Kennt jemand das Kind?«, fragte Andrea. Doch niemand meldete sich. Da bat Andrea: »Vielleicht könnte ich die Kleine irgendwo etwas säubern?«
»Aber ja, Frau von Lehn!«, rief die Apothekerin. »Kommen Sie nur ins Haus.«
Andrea hob die Kleine ungeachtet ihres Zustandes hoch und trug sie ins Haus. Noch immer hatte das Kind kein Wort gesagt. Andrea schätzte, dass es drei Jahre alt war.
»Was für ein hübsches Kind«, stellte die Apothekerin fest. »Es muss seiner Mutter fortgelaufen sein.«
»Wie heißt du denn?«, fragte Andrea, als sie im Badezimmer waren.
Das Mädchen lächelte plötzlich. Doch mehr geschah vorerst nicht. Andrea reinigte ihren Findling, so gut es ging, und kämmte dann das schulterlange hellblonde Haar. »Ich werde die Kleine erst einmal mitnehmen. Meine Mutter wird schon Rat wissen.«
»Ganz bestimmt«, versicherte die Apothekerin sofort, denn der gute Ruf Denise von Schoeneckers erstreckte sich weit übers Land. Allen war bekannt, dass sie das Kinderheim Sophienlust verwaltete, in dem bisher alle Kinder glücklich geworden waren.
»Bitte, seien Sie so nett und geben Sie mir noch diese Medikamente«, bat Andrea und reichte der Apothekerin den Zettel, den Hans-Joachim ihr ans Auto gebracht hatte.
Severin saß vor der Badezimmertür, während Andrea die Kleine säuberte. Auch später wich er nicht von der Seite des kleinen Mädchens. »Soll ich vielleicht die Polizei anrufen?«, schlug die Apothekerin vor, als sie die Medikamente brachte. »Sicherlich ist das Kind schon als vermisst gemeldet.«
»Die Polizei weiß ja schon Bescheid. Ich habe den Polizisten die Adresse von Sophienlust gegeben.«
Die Apothekerin nickte und begleitete Andrea und das Kind bis zum Wagen. Severin setzte sich neben die Kleine und ließ kein Auge von ihr.
»Keine Sorge, mein Lieber«, sagte Andrea lachend, »sie wird nicht mehr in den Gully fallen.«
Auf dem Weg nach Sophienlust begann das Kind nach seiner Mutter zu rufen. Doch Andrea gelang es, die Kleine zu beruhigen. »Willst du mir denn nicht sagen, wie du heißt?«, versuchte sie es wieder. »Wenn ich deinen Namen weiß, können wir deine Mutti schneller finden.«
»Ich heiße Heidi«, entgegnete das Kind endlich.
»Heidi? Was für ein hübscher Name. Weißt du auch, wie du mit Nachnamen heißt?«
»Heidi«, erwiderte die Kleine lakonisch. »Ich will zu meiner Mutti!«
Severin leckte Heidi