Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. Dahlhaus
Einschätzung oft nicht möglich
Kinder können durchaus spüren, ob die erlittene Gewalt, der sie ausgesetzt sind, ungerecht, »nicht richtig« ist. Je älter sie werden, können sie auch das grundlegend Falsche und für sie Schädliche von sexueller Gewalt ahnen und zunehmend erkennen. Den Formen der emotionalen Gewalt sind sie jedoch in besonderer Weise ausgeliefert. Sie verstehen oft nicht das Unrechte daran, erleben diese Bedingungen als gegeben. Oder sie empfinden sich selber als »schuldig«, als so wertlos, dass sie diese Art des Umgangs »verdienen«.
Diese »leisere« Form der Gewalt kommt ganz überwiegend in der Primärfamilie vor. In etwas abgewandelter Form können Kinder dies jedoch auch in Kindergarten, Schule oder anderen sozialen Zusammenhängen erleiden.
Auch der sogenannte »Liebesentzug« stellt eine subtile Form der Gewalt dar.
Da Kinder diese Erlebnisse als primäre Erfahrungen machen, fehlt ihnen ein Korrektiv, das Wissen, welches Maß an Beachtung, Unterstützung bzw. Förderung ihnen »eigentlich« zusteht.
Oft wird die Bedeutung einer emotionalen Traumatisierung erst in der weiteren Entwicklung, immer wieder auch erst im Erwachsenenalter sichtbar. Es bedarf eines sehr aufmerksamen Nachfragens, um die hiermit zusammenhängenden Umstände bewusst zu machen.
In der Therapie – im Einzelnen dazu später (siehe Seite 113 ff.) – wird es hier vorrangig und zentral um ein »Nachschaffen« von Vertrauensbildung und Wahrgenommen-Werden gehen.
Transgenerationale Traumatisierung
Übertragung auf spätere Generationen
Mit wachsender Aufmerksamkeit für Formen der Traumatisierung und deren Erforschung wurde deutlich, dass eine Traumafolgestörung auch bei Menschen auftreten kann, die selber kein Trauma erlitten haben. Zunehmend wird deutlich, dass dieses Phänomen nicht selten ist – häufig aber übersehen wird. Wir müssen heute davon ausgehen, dass nicht nur individuell erlittene Verletzungen zu einer Traumatisierung führen, sondern dass Traumata von einer Generation zur nächsten – möglicherweise auch noch auf weitere nachfolgende Generationen – übertragen werden können. Dabei handelt es sich oft um »kollektive Traumata« wie Kriegserlebnisse, erlittene Gewalt bei Migranten und Ähnliches. Aber auch individuell erlittene schwere Traumata wie Missbrauch und Vernachlässigung können in ihren Auswirkungen übertragen werden.
epigenetische Faktoren möglich
Der Weg dieser Weitergabe über Generationen ist noch nicht hinreichend erforscht. Möglicherweise spielen hier sogenannte epigenetische Faktoren eine Rolle. Vielleicht aber muss auch der Begriff der »Vererbung« – der sich bisher fast ausschließlich auf die genetisch vermittelte Weitergabe stützt – neu formuliert werden.
Begünstigend für diese Form der »Vererbung« scheint es zu sein, wenn es einer Person nicht möglich ist, im Rahmen des eigenen Lebens das Erlittene zu thematisieren und weitestmöglich zu «klären«. Problematisch wirkt es sich aus, wenn ein Geschehen »im Dunkel« geblieben ist.
Die Folgen einer Traumatisierung
hirnorganische Veränderungen
Die Auswirkungen einer Traumatisierung können sehr vielfältig und tiefreichend sein und müssen differenziert betrachtet werden. Schwere, anhaltende frühe Traumatisierungen können bis hin zu hirnorganischen Veränderungen führen. Dies betrifft insbesondere drei Strukturen des Gehirns.
Amygdala
Zum einen kann die Funktion der Amygdala beeinträchtigt sein. Diese auch als »Mandelkern« bezeichnete Zellstruktur im Zentralnervensystem ist Teil des Temporallappens und somit Teil des Limbischen Systems. Dieser Bereich verarbeitet von außen kommende Impulse und leitet vegetative Reaktionen dazu ein. Insbesondere gehören hierzu die Wahrnehmung von Erregung und im weiteren Sinne alle Bereiche von Angst und Furcht, wie sie als Reaktionen auf so empfundene Bedrohungsreize auftreten können; wir nennen sie auch unser »Angstzentrum«. Eine der Folgen einer frühen Traumatisierung ist eine erhöhte Aktivität der Amygdala – und damit eine oft erhöhte Angstbereitschaft.
Hippocampus
Ein weiterer Bereich des Limbischen Systems ist der Hippocampus. Er ist wichtig für die Gedächtniskonsolidierung, also die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. Diese Funktionen haben mit dem Lernen zu tun. Bei früh traumatisierten Menschen kann die Ausbildung dieses Hippocampus beeinträchtigt sein, er bleibt dann kleiner. Dies hat zur Konsequenz, dass die Lernfähigkeit, besonders die Fähigkeit Betroffener zum Lernen aus Erfahrung, beeinträchtigt sein kann, vor allem auch das Erlernen der wesentlichen Erfahrung: Das war, das kommt nicht wieder – oder auch: Der, der mir das angetan hat, kommt nicht wieder. Und: Ich weiß, dass ich ein anderer geworden bin!
präfrontaler Cortex
Ein weiterer Bereich ist der Frontallappen oder auch Stirnlappen des Gehirns. Dieser Bereich, darin vor allem der präfrontale Cortex, reguliert die kognitiven Prozesse mit dem Ziel, dass jeweils situationsgerechte Handlungen ausgeführt werden können. Auch beeinflusst der Stirnlappen die Amygdala im Hinblick auf Beruhigung und Angstregulierung. Dieser Frontallappen wird durch eine im frühen Lebensalter erlittene Traumatisierung ebenfalls in seiner Ausbildung gehemmt und bleibt kleiner.
Diese zutiefst mit dem Angsterleben und der Angstentwicklung zusammenhängenden komplexen hirnorganischen Veränderungen führen dazu, dass sich betroffene Menschen schneller fürchten, einen stärkeren Schreckreflex aufweisen, dass sie viel eher eine Angst vor der Nähe zu anderen Menschen empfinden, im Alltag allgemein ängstlicher sind – kurz: dass sie ein Leben in Alarmbereitschaft leben.
Körpergedächtnis
Unabhängig von diesen konkreten, bis in die hirnorganische Struktur gehenden Veränderungen sprechen wir bei der PTBS oft auch vom »Körpergedächtnis«. Der Traumaforscher Bessel van der Kolk hat folgerichtig sein wesentliches Buch zur Traumafolgestörung Verkörperter Schrecken benannt und darin Traumaspuren im Gehirn oder auch übergreifend im Körper beschrieben.41
Vereinfachend benennen wir mit Körpergedächtnis eine umfassende Reaktion unseres Körpers auf traumatisierende Ereignisse. Diese kann – wie beschrieben – bis in die Gehirnstruktur reichen, Formen der Muskelanspannung ebenso wie vegetative Symptome umfassen und Einfluss auf die Herzaktionen, die Verdauungsbereiche, regenerative Faktoren, die Krankheitsanfälligkeit, Regulationsstörungen und etliche Funktionen mehr nehmen.
Entscheidend und übergreifend verbindet alle diese Symptome, dass bei einem Betroffenen die aktive, bewusste und willentliche Handlungs- und Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt ist.
Dissoziation
Ein wesentliches Phänomen zum Verständnis von Auswirkung und Folgen einer Traumatisierung ist die Dissoziation (auch »Fragmentation«). Dissoziation beschreibt das teilweise oder vollständige Auseinanderfallen von körperlichen und seelischen Funktionen und umfasst damit Bereiche der Wahrnehmung, des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität, aber auch der Motorik.
Spaltung zwischen Ich und Emotionen
Dissoziation kann zwischen Bewusstsein und Körper auftreten, Dissoziation kann einen Teil des Körpers umfassen, dann eine Spaltung beispielsweise zwischen dem Kopf und den Gliedmaßen oder den Gliedmaßen und dem restlichen Körper bewirken mit der Folge, dass Gliedmaßen nicht mehr willentlich gesteuert werden können. Bei einer Dissoziation kann ebenso eine Spaltung zwischen dem Ich und den Emotionen, zwischen Gedanken und Empfindungen auftreten. Auch zu einer Spaltung zwischen dem Ich und