Dr. Norden Extra 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Es herrschte Hochbetrieb im Friseursalon Monica, als Vanessa Lindow hereingestürmt kam. Monica Lindows Tochter hatte es wieder mal sehr eilig, aber ihre Mutter kannte dieses Temperamentsbündel fast nur so. Wenn sie ruhig und still war, fehlte ihr etwas.
Vanessa war bildhübsch und von herzerfrischender Natürlichkeit. Monica war stolz auf ihre Tochter, die sie allein großgezogen hatte. Vanessa war durch die Liebe ihrer verständnisvollen Mutter dafür entschädigt worden, daß sie keinen Vater hatte. Sie hatte ihn nie vermißt. Ihre Mami war ihr ein und alles.
»Sag nur nicht, daß du einen neuen Haarschnitt brauchst, Schatzilein«, murmelte Monica etwas atemlos.
»Nein, ich wollte dir nur sagen, daß ich mittags nach München fliege, zum Oktoberfest. Mein Chef hat mir den Flug geschenkt. Er kann nicht weg, weil er Besuch aus USA bekommt. Ich muß für ihn in München nur einiges erledigen.«
»Aber das ist mir nicht ganz recht«, sagte Monica. »In München ist in der letzten Woche allerhand passiert.«
»Hier etwa nicht, Mami?« meinte Vanessa anzüglich. »Es kostet mich keinen Cent, und ich bin in einem erstklassigen Hotel untergebracht. Mach nicht so ein Gesicht, Mami. Sonntagabend bin ich wieder da.« Sie drückte ihrer ebenfalls sehr hübschen Mutter einen Kuß auf die Wange.
Ausgerechnet München, dachte Monica. Sie wurde plötzlich von einer inneren Unruhe erfaßt, aber Vanessa war schon an der Tür.
»Tschüs, Mami, mach dir keine Gedanken, gönn es mir«, sagte sie, und schon war sie draußen.
Vanessa war zwanzig Jahre alt und Volontärin in einem Zeitungsverlag. Sie hatte ein glänzendes Abitur gemacht und war sofort genommen worden. Sie wollte ihrer Mutter nicht länger auf der Tasche liegen, obwohl es Monica lieber gewesen wäre, sie hätte studiert. Damit waren aber die egoistischen Gedanken verbunden, daß sie sich dann nicht so schnell selbständig machen würde. Den Gedanken, daß Vanessa mal ihren Salon übernehmen würde, hatte sie nie gehabt.
Ihr war nichts anderes übriggeblieben, als die Nachfolge ihrer Eltern anzutreten. Zu bereuen brauchte sie es dann nicht, denn sie hatte das Bestmögliche daraus gemacht und sich einen guten Ruf erworben. Sie hatte prominente Kunden, und ihr Personal würde für sie durchs Feuer gehen. Leben und leben lassen, war Monicas Devise, und für ihre Tochter war ihr das Beste gerade gut genug, obgleich Vanessa niemals Forderungen stellte.
Sie konnte es sich jetzt aber nicht leisten, ihren Gedanken nachzuhängen. Sie mußte an die Arbeit, und damit war sie für den ganzen Tag eingedeckt.
*
Für Vanessa war es der erste Flug ihres jungen Lebens, und sie war begeistert. Da ihre Mutter etwas gegen das Fliegen hatte, waren sie in den Urlaub immer mit dem Wagen gefahren, und weite Reisen hatten sie eigentlich nie gemacht. Einmal waren sie in Norwegen gewesen, mehrmals in Dänemark. Südliche Länder kannte Vanessa überhaupt nicht. Das könne sie alles erleben, wenn sie erwachsen sei, hatte Monica gesagt. Nun war sie erwachsen, aber Fernweh hatte sie noch nicht gepackt.
Natürlich gehörte es zu ihrem Beruf, dieWelt zu entdecken, und nicht nur Bücher zu lesen über ferne Länder und interessante Städte. Während des Fluges studierte sie einen Stadtführer von München. Als sie dort landete, wußte sie schon sehr viel über die historische Vergangenheit der Stadt, die Bauten und Sehenswürdigkeiten. Sie würde nicht genügend Zeit dafür haben. Im Hotel sollte sie einen Bekannten ihres Chefs treffen, dann sollte sie auch noch einen Dr. Norden aufsuchen und ihm ein Päckchen bringen.
Es war eine Riesenüberraschung für sie gewesen, als Dr. Jankovski sie fragte, ob sie gern mal ein Wochenende in München verbringen würde, um das Oktoberfest zu besuchen.
Sie hatte ihn verblüfft angeschaut. »Ich war noch nie in München, aber momentan hätte ich auch gar nicht das Geld. Ich habe mir erst das Auto gekauft, und meine Mutter tut sowieso schon soviel für mich.«
Dr. Jankovski wußte das, denn seine Schwester war bereits seit Jahren Kundin von Monica Lindow. Sie hatte Vanessa veranlaßt, sich bei ihm zu bewerben. Er brauchte es nicht nicht zu bereuen, daß er Vanessa eingestellt hatte. Und sie war rundherum glücklich, ihren Traumberuf so schnell verwirklichen zu können.
»Es kostet Sie nichts«, hatte Dr. Jankovski gesagt. »Flug und Hotel sind frei. Ich war eingeladen, kann aber nicht weg. Nun müssen Sie mich würdig vertreten, Vanessa.«
Sie hatte es zuerst nicht glauben wollen, aber es war ernst gemeint.
Nun war die Maschine gelandet. Es war Freitagnachmittag. Der riesige neue Flughafen beeindruckte sie gewaltig. Lebhaft ging es zu, aber sie fand sich schnell zurecht und auch gleich den Weg zur S-Bahn, die sie in die City bringen sollte. Dr. Jankovski hatte fürsorglich aufgeschrieben, wann sie aussteigen mußte. Das Hotel konnte sie dann zu Fuß erreichen. Sie hatte ja nur leichtes Gepäck. Sie war ein modernes, selbstbewußtes Mädchen, frei von Hemmungen, sich auch in einem First-Class-Hotel so zu bewegen, daß ihr nicht anzumerken war, welches Neuland sie betrat. Sie ignorierte die teils wohlwollenden, teils herausfordernden Männerblicke und freute sich dann aber doch, daß Dr. Jankovski telefonisch Bescheid gesagt hatte, daß seine Reservierung an sie weitergegeben worden sei.
Eine junge Dame in Vanessa Alter, die hinter dem Tresen ihren Pflichten nachging, lächelte ihr zu, als sie fragte, ob Dr. Holbruck bereits eingetroffen sei.
»Er hatte noch etwas zu erledigen, aber eine Nachricht für Sie hinterlassen«, erklärte die junge Dame.
Sie gab ihr einen Umschlag, auf dem ihr Name stand. Also war auch er bereits informiert, daß sie an Dr. Jankovskis Stelle kam.
In flüchtiger Schrift stand auf einer Visitenkarte: Bin siebzehn Uhr zurück, hoffe Sie dann zu sehen.
Dr. Jörg Holbruck? Sie überlegte. Hatte Dr. Jankovski nicht von einem Jonas geredet? Aber Vanessa machte sich nicht lange Gedanken. Sie fand alles wunderschön, und in dem komfortablen Apartment fand sie alles vor, was ihren Aufenthalt besonders angenehm machen würde.
Bis siebzehn Uhr konnte sie nicht mehr viel unternehmen. So rief sie Dr. Norden an, um ihn zu fragen, wann sie das Päckchen von Dr. Jankovski bringen könne.
Er war nicht mehr in der Praxis, aber sie hatte auch seine Privatnummer auf dem Zettel, den Dr. Jankovski ihr mitgegeben hatte.
Fee Norden meldete sich, und Vanessa erklärte ihr Anliegen. »Leider habe ich um siebzehn Uhr eine Besprechung und kann nicht gleich kommen«, sagte sie. »Wann wäre es Ihnen recht, Frau Dr. Norden?«
»Sie können gern morgen vormittag kommen, Frau Lindow. Oder auch heute abend.«
»Das wäre mir lieber, damit es ja nicht verlorengeht. Dr. Jankovski hat es mir sehr ans Herz gelegt. Dann komme ich abends. Ich halte Sie ja nicht auf«, sagte Vanessa.
Fee und Daniel Norden rätselten schon einige Zeit darüber, was das Päckchen wohl enthalten mochte, das Dr. Jankovski von einem früheren Patienten von Daniel aus den USA für ihn mitgebracht hatte.
»Was kann es denn nur so Wichtiges sein, daß Robert es nicht mit der Post schicken wollte?« meinte Daniel Norden auch jetzt.
Nun, darauf konnte ihnen Robert Kestner keine Antwort mehr geben, denn er war kurz nach seinem Treffen mit Dr. Jankovski bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.
»Wir werden es ja sehen«, meinte Fee.
*
Vanessa hatte geduscht und sich für das Treffen mit Dr. Holbruck umgekleidet. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung von ihm. Sie wußte nur, daß er Kunstexperte war und einem Bilderfälscher auf die Spur gekommen war. Warum sich Dr. Jankovski mit ihm in München treffen wollte, wußte Vanessa auch nicht. Er hatte nur gemeint, sie könne darüber einen Bericht schreiben.
Davor fürchtete sie sich nicht, aber von Kunst verstand sie nur soviel, was ihr Auge und ihr Ohr erfassen konnten.
Schon fünf Minuten vor siebzehn Uhr läutete ihr Telefon. Die Männerstimme war ihr sympathisch. Jörg Holbruck bat sie, in den Teeraum zu kommen. Er hätte den Tisch Drei reserviert.
Vanessa warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel,