Mami 1981 – Familienroman. Leni Behrendt
war überzeugt davon, daß sie Nico dazu überreden konnte, Jakob in die Kartei zu übernehmen. Das war die Hürde, die viele Kinder nicht schafften, die aber die Voraussetzung für weitere Erfolge war.
Deshalb ließ sie es gegen ihre innere Überzeugung zu, daß Nico nach ihren Händen griff und sie kräftig drückte. Eigentlich war sie enttäuscht über seine Einstellung. Aber es hatte keinen Sinn, ihm Vorhaltungen darüber zu machen. Klüger war es, so zu tun, als gäbe es keine Meinungsverschiedenheiten.
»Ich komme gern mit«, murmelte sie zerstreut. Sie hatte schon immer gewußt, daß Nico nur ans Geschäft dachte, und daß er nicht fähig war, Mitgefühl für andere aufzubringen. Als verwöhntes Einzelkind aufgewachsen, war er zum Egoisten geworden, stumpf gegen fremde Schicksale. Das war etwas, das Shanice an ihm störte. Alle darüber geführten Diskussionen hatten in einer Mißstimmung geendet, und das war für Shanice nun wirklich nicht erstrebenswert. Denn sie mochte Nico und kam normalerweise auch gut mit ihm aus. Ob diese Beziehung lebenslang Bestand haben würde, darüber machte sie sich wenig Gedanken. Klar aber war beiden, daß es wirtschaftliche Gründe waren, die für den Zusammenhalt sorgten. Manchmal ließ sich das überspielen, manchmal auch nicht.
*
»Hier wartest du, bis ich zurück bin. Es wird nicht lange dauern. Du kannst inzwischen das Bilderbuch anschauen.« Anita Stahnke drückte ihrem Neffen ein kleines Büchlein in die Hand. Sie hatte ihn im Kindersitz festgeschnallt und verschloß nun zusätzlich auch noch das Auto, damit der Kleine nicht aussteigen konnte.
Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, ging sie zum Haus von Nico Berdon zurück. Ihr Gang war der einer Frau, die es darauf anlegte, aufzufallen. Sich in den Hüften wiegend stolzierte sie durch den Vorgarten.
Sie hatte sich für den Besuch
in der Kids-Agentur besonders hübsch gemacht und war nun enttäuscht darüber, daß sie den Chef gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Das wollte sie nicht hinnehmen. Schließlich hielt sie sich für eine begehrenswerte Schönheit. Bei jeder Gelegenheit suchte sie nach der Bestätigung für diese Übersetzung.
So auch jetzt. Sie hatte mit den anderen Begleitpersonen im Haus gewartet und durch die Fenster beobachtet, was sich draußen im Garten abspielte. Dabei hatte sie festgestellt, daß Nico Berdon, der junge Chef der Kids-Agentur, ein bemerkenswerter Mann war. Mit seinen dunklen Locken, den fast schwarzen Augen und dem gepflegten Dreitagebart war er genau ihr Typ. Auch das Alter mochte stimmen. Anita war dreiunddreißig, und sie schätzte, daß Berdon ihr Jahrgang war.
Entschlossen verlangte sie Nico zu sprechen. Diesmal mußte sie in der Diele warten. Die Zeit wurde ihr nicht lang, denn hier gab es eine Menge Spiegel und Anita betrachtete sich gern von allen Seiten.
Sie hatte reichlich Übergewicht, fand das aber nicht tragisch, denn dadurch hatte ihr Körper beachtliche Rundungen. So etwas mochten die Männer. Diese Erfahrung machte Anita immer wieder, und das stärkte ihr Selbstbewußtsein.
Zufrieden schüttelte sie den Kopf mit den schulterlangen blonden Locken. Sie nahm den Lippenstift aus der Tasche und zog die Konturen nach. Auch die Lidstriche unter den wasserblauen Augen korrigierte sie und fand, daß sie in ihrem kurzen Rock und der engen Bluse fabelhaft aussah.
Sie stellte sich so, daß das Licht ihre gefärbten Haare noch heller wirken ließ. Es war gar nicht einfach, zehn Minuten lang in der günstigsten Position zu verharren, doch Anita hielt aus, denn sie wußte ja nicht, wann Nico Berdon auftauchte.
Als er endlich eilig in die Diele kam, war er im ersten Moment tatsächlich verblüfft. Doch schon im nächsten Augenblick war ihm klar, daß diese Besucherin zu jener Kategorie von Frauen gehörte, die er nicht besonders schätzte. Für Vamps mit gierigen Blicken hatte er nichts übrig. Er liebte Natürlichkeit, wie sie Shanice eigen war. Grell geschminkte Lippen und Augen, die mit dicken schwarzen Strichen umrandet waren, stießen ihn ab.
Anita ahnte nichts davon. Sie lächelte verführerisch.
»Ich bin zurückgekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen«, zwitscherte sie mit honigsüßer Stimme. »Es tut mir furchtbar leid, daß sich mein Neffe so ungeschickt verhalten hat.« Anita schaute bekümmert auf Nicos verdorbene Hose.
Nico, der keine Ahnung hatte, von welchem Neffen und welchem Malheur die Rede war, hatte nur den einen Wunsch, diese Dame rasch wieder loszuwerden.
»Schon gut. Bei diesen Kinderpartys gibt es immer Schäden. Das ist nicht tragisch«, antwortete er höflich. Es kamen häufig eitle Mütter zu ihm, die ihre Kleinen unbedingt auf der Titelseite einer Illustrierten sehen wollten. Sie erreichten bei ihm gewöhnlich eher das Gegenteil. Noch weniger mochte er jene Eltern, die auf das Geld scharf waren, das ihre Kinder verdienten. Diese Besucherin schien weder zu der einen noch zu der anderen Kategorie zu gehören. Nach ihren aufdringlichen Blicken zu schließen, hatte sie ganz persönliche Interessen. Doch davon hielt Nico auch nichts.
»Ich bezahle selbstverständlich die Reinigung. Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich die Hose gleich mit und bringe sie übermorgen wieder.« Anita kam mit tänzelnden Schritten näher. Mit voller Absicht bewegte sie sich so, daß ihr kurzer Rock noch etwas höher rutschte. Dadurch war noch mehr von ihren kräftigen, aber hübsch geformten Beinen zu sehen.
»Ach, um die Kakaoflecke geht es!« Nico sah flüchtig an sich hinunter. Dieser Hose half auch keine Reinigung mehr, das sah er erst jetzt. »Vergessen Sie es, ich habe noch mehr solcher Hosen. Kein Problem.« Er nickte der Besucherin zu, was bedeuten sollte, daß er die Unterredung als beendet betrachtete.
Anita sah das anders. »Mein Neffe ist ein intelligentes Kind, aufgeweckt und durchaus fotogen. Das beweisen die Amateurfilme, die seine Eltern von ihm gemacht haben. Leider ist meine Schwester vor etwa einem Jahr durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen. Mein Schwager ging ins Ausland, und ich sorge seither für den Kleinen.«
Nico interessierte das alles überhaupt nicht. »Entschuldigen Sie, aber ich habe nur wenig Zeit«, versuchte er die Unterhaltung zu beenden.
»Das ist mir völlig klar«, behauptete Anita mit strahlendem Lächeln. »Deshalb fasse ich mich so kurz wie möglich. Wenn Sie meinen Neffen für Film- oder Fernsehaufnahmen vermitteln, haben Sie meine volle Unterstützung, und das sollten Sie wissen.«
»Eigentlich ist das die Voraussetzung, wenn jemand ein Kind zu uns bringt«, wunderte sich Nico.
»Freilich. Doch bei mir geht das noch einen Schritt weiter. Ich denke da an eine Arbeitsgemeinschaft, die uns beiden persönliche Vorteile bringt.«
Es war völlig klar, wie Anita Stahnke das meinte, doch Nico stellte sich dumm. »Ich glaube nicht, daß wir den Jungen vermitteln können. Er ist zu schüchtern. Was wir brauchen, sind Kinder mit Selbstbewußtsein, unerschrocken und belastbar. Ich will Sie nicht kränken, aber ich habe den Eindruck, daß Ihr Neffe diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Das sage ich Ihnen, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Sie haben ja selbst gesehen, wie groß das Angebot an niedlichen Knirpsen ist.« Nicos Stimme klang freundlich, aber bestimmt.
Trotzdem ließ sich Anita nicht abschrecken. »Sie werden nicht leugnen können, daß Jakob einer der niedlichsten war«, meinte sie, unbeeindruckt von Nicos ablehnender Haltung.
»Wenn wir ihn vermitteln können, rufen wir Sie an.« Nico streckte der aufdringlichen Anita Stahnke die Hand hin, um sich zu verabschieden.
»Wir sollten uns auf jeden Fall wiedersehen. Deshalb wollte ich Sie auf ein Glas Wein einladen. Sozusagen als Wiedergutmachung für die verdorbene Hose.« Anita zog alle Register ihrer Verführungskunst. »Bei dieser Gelegenheit können Sie Jakob unauffällig beobachten, und Sie werden feststellen, daß er ganz anders ist, als er sich heute gab.«
»Das habe ich gleich bemerkt«, mischte sich jetzt Shanice ein, die vorbeigekommen war und den Namen ihres kleinen Favoriten hörte. Sie blieb stehen und betrachtete Anita Stahnke nachdenklich.
Man brauchte nur geringe Menschenkenntnis, um festzustellen, daß diese Tante in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgte. Wie hatte Jakobs Vater das Kind dieser Frau anvertrauen können? Lag ihm so wenig daran, wie