Das Erbe der Macht - Band 23: Engelsfall. Andreas Suchanek

Das Erbe der Macht - Band 23: Engelsfall - Andreas Suchanek


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zu warten, kehrte er zurück zu Tomoe. »Erledigt.« Sein Blick wanderte wieder an jene Stelle an der Wand, an der die Worte wie ein Mahnmal auf ihn herabschauten. »Die alte Sprache von Iria Kon.«

      »Möge der Friede erhalten bleiben«, wiederholte Tomoe. »Eine Hoffnung, die eindeutig scheiterte.« Sie sah sich langsam um. »Wir müssen herausfinden, was hier geschehen ist.«

      Ich sehe es dir an, du hast eine Theorie.«

      »Leonardo da Vinci.« Grace betrachtete ihn süffisant. »Immer noch das Genie von damals. Natürlich habe ich eine Theorie.«

      Auch wenn er froh darüber war, die alte Freundin wieder in ihrer Mitte zu wissen, war ebenfalls das Bedürfnis zurückgekehrt, sie permanent durchzuschütteln.

      »Ich war nie auf Iria Kon«, ergänzte Grace.

       Sie war als Frau Anfang der Vierziger ins Leben zurückgekehrt. Das schwarze Haar trug sie schulterlang, an ihrem linken Ringfinger einen Siegelring. In ihren Händen hielt sie einen Expeditionshelm, wie er 1914 gängig gewesen war. Grace‘ Hemd war blütenweiß, selbst nach den Erlebnissen ihrer bisherigen Reise, und die Treckinghose nur leicht verschlissen. Sie wirkte wie eine Urwaldentdeckerin aus einem Tarzan-Film.

      »Flüchtlinge«, mischte Anne Bonny sich in das Gespräch ein. »Könnte das sein?«

      »Es gab nicht viele Überlebende«, sagte Clara mit krächzender Stimme. Nach der Rettung aus dem Albtraum, zu dem Merlin sie und Leonardo verdammt hatte, wirkte sie noch ein wenig ausgezehrt. »Die Schattenfrau hat jedes lebende Wesen auf Iria Kon getötet, bevor sie die Stadt von der Landkarte verschwinden ließ.«

      »Folgen wir doch weiter dem Hinweis, den der Agnosco geliefert hat«, schlug Anne vor.

      Ein wahres Labyrinth aus Gängen schloss sich an, wobei ein großer Teil unter dem Sand vergraben war. Sie mussten Schwerkraftzauber und Muskelkraft kombinieren, um sich den Weg freizuschaufeln. Stunden vergingen. Schließlich rauschte ein letzter Rest Sand davon und gab den Blick frei auf einen Raum mit einem gewaltigen Schwimmbecken, in dessen Innerem sich Flüssigkeit erhalten hatte. Sie war brackig, durchzogen von Schlamm.

      Als sie eintraten, leuchtete etwas im Boden auf und die durchscheinende Silhouette einer Frau erschien. Sie hatte dichtes, welliges Haar und fein geschnittene Züge. Ihr Alter mochte in den Dreißigern oder Vierzigern liegen, so genau war das nicht auszumachen.

      »Willkommen, Gesandte des Castillos«, sprach sie sanft. »Ihr seid hier und sucht nach Antworten, ihr sollt sie erhalten. Kommt und seht, was einst geschah. Mehr kann ich nicht mehr tun. Wenn ihr diesen Ort betretet, liegt die Dämmerung längst über dem Licht.« Ein trauriges Lächeln lag auf ihrem Antlitz. »Mögen die Vorfahren mit euch sein.«

      In einem Flackern verschwand das Bild.

      Im Boden des Beckens öffnete sich ein Spalt, was dazu führte, dass der gesamte Schlamm nach unten wegschwappte. Direkt in einen verborgenen Raum.

      »Wunderbar.« Leonardo stöhnte. »Wer hat den besten Putzzauber parat?«

      »Du sicher nicht.« Grace lächelte frech.

      »Wart‘s nur ab.«

      Gemeinsam sprangen sie voran, kamen auf dem Boden des Beckens auf und wirkten Zauber, die den Schlamm aus dem Wasser zogen und abtransportierten. Danach wurde das Wasser zu Dampf, was erst einmal alles in dichten Nebel hüllte, doch am Ende waren Raum und Becken sauber.

      »Wie kann das sein?«, fragte Clara, als sie den Raum betraten. »Wieso konnte sie uns als Gesandte des Castillos identifizieren? Woher wusste sie überhaupt, dass wir kommen?«

      Seltsamerweise glaubte Leonardo, die Antwort auf Claras Frage wissen zu müssen. Etwas an der Fremden hatte vertraut gewirkt, wie auch die Schrift von Iria Kon und das Mosaik.

      »Kannst du sie zuordnen?«, fragte er die junge Ashwell.

      »Weder durch meine eigenen Erinnerungen noch irgendwelche Fragmente der Schattenfrau«, erwiderte sie.

      »Aber das Castillo wurde erst Jahrhunderte nach dem Untergang von Iria Kon gebaut«, sagte Grace.

      »Mich braucht ihr nicht anzuschauen.« Anne machte eine abwehrende Geste. »Ich bin quasi erst ein paar Monate alt. Von diesem ganzen Kram weiß ich nichts. Ich lebte als Nimag außerdem vor dem Castillo und lange nach Iria Kon.«

      Ein gespanntes Kribbeln ließ Leonardo erschaudern. Mittlerweile teilte er die Zuversicht Tomoes, dass die Archivarin sie aus einem bestimmten Grund hierhergeführt hatte.

      Der Raum erwies sich als überschaubar, was hauptsächlich daran lag, dass es keinerlei Einrichtungsgegenstände gab. Die Wände waren aus dem typischen gelben Gestein gefertigt, das Leonardo längst auf die Nerven ging. In der Mitte stand etwas, das an eine angeschmolzene Schneekugel erinnerte.

      »Ein Mentiglobus.« Anne sank neben dem Erinnerungsspeicher in die Hocke. »Will jemand ausprobieren, ob Sicherungen eingebaut wurden?«

      Tomoe schob sie beiseite, berührte den magischen Speicher mit ihrem Essenzstab und führte erneut einen Agnosco aus. »Er ist sauber.«

      Irgendwie hätte es Leonardo auch gewundert, wenn sich das Ganze als Falle herausgestellt hätte. Etwas Wichtiges verbarg sich in den gespeicherten Erinnerungen, davon war er längst überzeugt.

      »Dann sind wir uns einig?«, fragte er in die Runde.

      »Vielleicht nicht alle auf einmal«, schlug Grace vor. »Immerhin kann sich noch immer etwas Destruktives darin verbergen. Ich erinnere mich an einen perfiden Mordplan, den ich einst aufdeckte. Eine Magierin verankerte grauenvolle Erinnerungen an Folter in ihrem eigenen Geist und extrahierte sie von dort in einen Mentiglobus. Eine recht simple Abfolge, die ihren Ehemann beinahe in den Tod getrieben hätte, als er den Erinnerungsspeicher auslas. Letzteres tat er ohne ihr Einverständnis, deshalb hielt mein Mitleid sich in Grenzen.«

      »Das muss ich mir merken«, sagte Anne begeistert.

      Leonardo verdrehte die Augen. »Da vergesse ich doch immer wieder, dass du eigentlich gar nicht auf unserer Seite stehst.«

      »Was ist heute schon ›unsere‹? Ich kämpfe mit euch gegen Merlin, insofern solltest du dich freuen. Hat der Mann überlebt?«

      »Das tat er«, bestätigte Grace. »Allerdings musste er zahlreiche Sitzungen bei einem Heiler absolvieren. Die Frau wanderte in den Immortalis-Kerker. Vermutlich muss ich sie nun noch einmal einfangen, da Merlin dessen Tore geöffnet hat.«

      »Ende gut, alles gut«, schloss Tomoe.

      »Sieht man davon ab, dass der Kerker wieder geöffnet wurde, aber lassen wir das.« Sie deutete auf den Mentiglobus. »Also, wer macht den Anfang?«

      Clara trat nach vorne. »Ich will es sehen.«

      »Dabei«, sagte auch Tomoe.

      »Ich sowieso.« Leonardo deutete auf den Erinnerungsspeicher.

      »In diesem Fall übe ich mich in Geduld und warte auf euren Bericht, bevor ich ebenfalls eine Reise in die Erinnerungen unternehme«, erklärte Grace. »Natürlich werde ich euch mit einem Agnosco genauestens überwachen.«

      »Und nebenbei kannst du mir Geschichten erzählen«, schlug Anne vor. »Du hast doch bestimmt noch weitere wunderbare Mordfälle erlebt. Gelöst, meine ich.«

      »Du kannst sie auch Grace Marple nennen«, stichelte Leonardo. »Das freut sie ganz besonders.«

      »Und du nimmst gleich eine Abzweigung in die Folterszene«, drohte Grace.

      Zu dritt ließen sie sich um den Erinnerungsspeicher herum in den Schneidersitz sinken. Leonardo betrachtete das braun-gelbe Glas und die Symbole auf der Basis. Wie alt mochten diese Erinnerungen sein? Und, noch wichtiger: Von wem stammten sie?

      Als er die magischen Zeichen genauer betrachtete, beantwortete sich die Frage.


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