Der Junker von Denow und andere Erzählungen. Wilhelm Raabe
vollständig verändert.
„Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen!“ ging es von Mund zu Mund. „Sturm! Sturm! Gen Rees! gen Rees!“
Und als peitsche der Satan sie vorwärts, seiner Hölle zu, hatte sich plötzlich diese ganze Masse von Kriegern, Führern, Weibern, Troßknechten in Bewegung gesetzt, dem flammenden Vulkan im Westen entgegen. Gier nach Beute, unbefriedigte Gier nach Blut trieb sie von dannen. Im wildesten Taumel, Reiter und Fußvolk und Wagen bunt durcheinander, raste sie über das Feld durch die Nacht. Im wildesten Taumel und Traum, das Schwert am Faustriemen, vor sich auf dem Sattel das Mädchen aus den Weserbergen, saß Christoph von Denow auf seinem schwarzen Roß. — —
„Sturm! Sturm! Rees zu Sturm geschossen! Vivat der Graf! Vivat der Graf von Hollach! Vorwärts! Vorwärts!“
Ein sekundenlanges Anhalten in dieser wüsten Menschenflut war eine Unmöglichkeit, ein Fehltritt, ein Straucheln der sichere Tod. Schon hörte man zwischen dem Donnern und Krachen um die Stadt den Schlachtruf der Feinde: „Spanien und die Jungfrau! Spanien und die Jungfrau!“ und lauter und näher den Ruf der angegriffenen Belagerer: „Das Reich! das Reich! Vorwärts, das Reich!“
Hinein in die Atmosphäre von Blut und Feuer brauste die anstürzende Menschenmasse, und die Letzten drängten bereits die Vordersten in die angegriffenen Laufgräben, aus denen eine andere Flut ihnen entgegen wogte. Das waren die Hessischen, die schlecht bewaffneten, halbverhungerten, im Regen und Rheinwasser fast ertränkten Schanzgräber, welche dem wilden Anprall der Spanier nicht hatten widerstehen können.
„Spanien! Spanien! Spanien und die Jungfrau!“ rief Francisco Orticio, sich über einen Schanzkorb in die Höhe schwingend.
„Spanien! Spanien und die Jungfrau!“ wiederholten seine Krieger ihm nachdringend.
„Rette, Hessen! Rette!“ schrien die flüchtigen Söldner des Landgrafen im panischen Schrecken.
„Braunschweig! Braunschweig!“ brüllte es von den Höhen der Böschungen.
„Up dei Düvels!“ schrie Heinrich Weber aus Schöppenstedt, eine Fackel in der Hand mitten unter die Hessen springend. Der flammende Brand flog im weiten Bogen gegen die Spanier — ein zweiter Satz — die zu Grund, der Bergstadt im Harz, gehämmerte Hellebarde schmetterte nieder auf eine zu Cordova geschmiedete Sturmhaube: Diego Lua aus Toboso stürzte mit einem „Valga me Dios!“ tot zurück.
„Braunschweig! Braunschweig!“ brauste es dem Schöppenstedter nach, und „Braunschweig! Braunschweig!“ jubelten auch die Hessen, welche mit neuem Mut sich wandten gegen ihre Verfolger.
„Braunschweig! Braunschweig!“ rief Christoph von Denow, dem es gelungen war, sich von seinem Pferde zu werfen, welches sich auf der Böschung hoch bäumte, im nächsten Augenblick aber, von einer Kugel getroffen, zusammenbrach. Anneke Mey stand unbeschädigt auf den Füßen, doch auch sie wurde mit hinabgerissen in die Gräben, wo sie jedoch samt Hans Niekirche hinter einem Haufen umgestürzter Schanzkörbe den verlorenen Atem wieder gewinnen konnte.
Und jetzt Angriff und wütende Verteidigung, Flüche in sechs Sprachen, Todesrufe; — auf engstem Raum Vernichtung jeder Art! — Alle Hauptleute der Braunschweiger: Adebar, Maxen, Wulffen, Wobersnau, Rußwurmb, Dux, Statz, und wie sie hießen, hatten ihre Stellen als Befehlshaber wieder eingenommen und drängten tapfer kämpfend die Spanier zurück. Tapfer stritten aber auch die Spanier. Sechs Geschütze hatten sie in den hessischen Schanzen genommen und in den Rheingraben versenkt, Schritt für Schritt wichen sie zu den flammenden Mauern und Wällen der Stadt über die Leichen ihrer Landsleute und ihrer Feinde. Der Graf von Hohenlohe in vollster Rüstung mit seinen Herren führte stets neue Truppen an; Haufen auf Haufen ließ Don Ramiro de Gusman hervorbrechen.
Dicht an den Spaniern kämpfte Christoph von Denow, das Blut rieselte aus einer Stirnwunde, — er merkte es nicht. Anneke Mey hatte sich mutig auf ihren Schanzkorb geschwungen und den widerstrebenden Niekirche nachgezogen. Sie hielt ihr Messer noch immer gezückt in der Rechten, mit der Linken hielt sie den schlotternden Trommelschläger am Kragen.
„So schlage den Sturmmarsch, Junge!“ rief sie lachend. „Willst’ nicht? Wart, gleich fliegst du herunter, daß sie dich drunten zu Brei vertreten, Feigling!“
„Ja! ja! ich will!“ jammerte Hans. „Ach wär’ ich doch daheim! Ach wär’ ich doch zu Haus! Mein Mutter! mein Mutter!“
„Na, na, schlage nur immer zu, du kommst noch davon!“ sagte Anneke begütigend und ließ den Kragen des Armen los. „Dein’ Mutter wartet schon a bissel! Schau, wie lustig das aussieht — da, guck, sie geben’s den welschen Bluthunden! Wär’ ich ’n Knab, wie du — hei, ich wollt’s ihnen auch schon zeigen!“ Und mit heller Stimme fing das Mädchen an zu singen:
„Mein Vater wollt’ ein Knäbelein,
Mein Mutter wollt’ ein Mägdelein,
Mein’ Mutter tät gewinnen,
Des muß den Flachs ich spinnen — Ja spinnen!
Das ist mir großes Leid!“
Immer mutiger schlug Hans Niekirche, durch seine Gefährtin aufgemuntert, seine Wirbel, und unter beiden Kindern vorbei drängten ununterbrochen die Scharen des Reichs vor und zurück, wie der Kampf vor- und zurückwich; bis die Spanier in die Stadt gedrängt waren, und das Zeichen zum Sammeln von allen Seiten den Deutschen gegeben wurde. Don Ramiro hatte die Rheinschleusen, welche er in seiner Gewalt hatte, öffnen lassen.
„Sieh das Wasser! das Wasser!“ rief Hans Niekirche in neuer Angst. „Laß uns fort, Anneke, sie wollen uns ersäufen, wie die jungen Katzen.“
Ein allgemeiner Schrei erhob sich unter dem Getümmel in den Laufgräben; schon standen manche Haufen bis an den Gürtel in der reißend schnell steigenden Flut.
„Halt, halt!“ rief Anneke Mey. „Er ist noch nicht zurück; aber — geh nur — geh — ich bleib’!“
„Und ich bleib’ auch!“ schrie Hans der Trommler.
„Zurück! zurück!“ tönte es aus den rückwärts weichenden Scharen des Reichsheeres: „Das Wasser! Der Rhein! Das Wasser!“ Und immerfort donnerte das Geschütz der Spanier von den Wällen, immerfort schlugen die Kugeln verheerend in das wirre, verzweiflungsvolle Durcheinander.
Es war eine böse Belagerung — die Belagerung der Stadt Rees am Rhein: es war kein Glück, es war keine Ehre dabei zu holen.
„Der Junker! der Junker! Christoph! Christoph von Denow!“ schrie die junge Dirne auf ihrer Höhe, die Hände ringend, und das Wasser stieg und stieg. Schon waren die letzten der Haufen unter ihr vorüber, und die Toten, von den Fluten gehoben, wirbelten um sie her. Da griff eine Hand aus den Wassern nach dem Schanzkorbe, auf welchem sie stand, und ein bleiches Haupt erhob sich zu ihren Füßen: „Rette! Rette!“
„Christoph! Christoph!“ schrie das Mädchen, sie lag auf den Knien, sie faßte die triefenden Locken, sie faßte den Schwertriemen — der Junker von Denow war gerettet. Valentin Weisser, der Riese, dessen Blutdurst und Mut durch den Kampf und den Rhein bedeutend gekühlt war, brachte mit Hilfe gutwilliger Genossen den wunden Junker, die Dirne und Hans, den Trommelschläger, glücklich auf das Trockene und weit hinein ins Feld, wo die gelichteten, zerrissenen, wunden Krieger des Reichsheeres um die Wachtfeuer murrend und grollend in stumpfsinniger Ermattung lagen und die Führer bereits wieder unheimliche und drohende Worte zu hören bekamen.
II.