Fremde Worte. Jana Volkmann

Fremde Worte - Jana Volkmann


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weshalb. Den Roman hatte sie daheim sofort begonnen. Dreimal hatte sie die erste Seite gelesen, bis sie sich eingestand, dass es an der Zeit war für eine neue Beschäftigung, und in ihr ging eine Schere zu, trennte sie von einer anderen Hanna.

      Sie hatte ihre Grenzen immer enger um sich herum gezogen. Sie wollte nicht teilen, nicht einmal ihre Begeisterung für die Widmungen. Sie ahnte, dass es nicht dasselbe wäre, wenn ihre Freude nicht mehr diebisch im Geheimen bliebe; dass etwas mit den Widmungen geschehen würde, wenn jemand anderes sie las. Jemand anderes, dem sie trivial vorkamen und der Hannas Lesegewohnheiten verschroben, langweilig oder einfach total bescheuert fand. Sie erzählte niemandem davon. Dass es zu diesem Zeitpunkt auch gerade niemanden gab, der an ihren Flohmarktschätzen oder den Fundstücken aus dem Antiquariat besonderes Interesse zeigte, kam ihr nur gelegen. Wenn eine Freundin sie fragte, was sie gerade lese, fiel ihr immer irgendein Titel ein, der langweilig genug war, das Gespräch gleich wieder zu beenden. Sie zog behutsam einen Bannkreis um sich und die besonderen Bücher, bis kein Platz mehr für andere darin war. Niemand durfte mit hinein in ihre Geschichten, in ihr geheimes zweites Zuhause zwischen den Buchdeckeln. Die, von denen sie sich entfernte, waren ihr im Grunde schon vorher fern gewesen. Lauter ehemalige Kommilitoninnen, frühere Mitbewohner oder Leute, die sie bei einem Job kennengelernt hatte. Sie hörten alle auf anzurufen, einer nach dem anderen. Es waren schleichende, wortlose Abschiede, die niemandem von ihnen wehtaten und die sie wohl alle insgeheim ein wenig erleichterten, obwohl das natürlich niemand sagen würde, denn wenn sie es sagen würden, müssten sie es auch erklären, und es fiel ihnen allen schwer, einen Grund zu finden, weshalb sie sich plötzlich so ungeheuer fremd vorkamen. Hanna fragte sich ab und zu, ob man sich auf Partys nach ihr erkundigte. Ob man über sie sprach. Und wer. Und was sie redeten, wenn sie redeten, ob sie sich Sorgen machten, ob sie sie vermissten oder ob sie sie einfach wunderlich fanden. Ob sie sich besser fühlten ohne sie oder schlechter. Am wahrscheinlichsten war, dass sie überhaupt nicht von ihr sprachen. Wenn sie sich vorstellte, worüber und über wen sie stattdessen redeten, über alles und jeden nämlich, nur eben nicht über sie, kam ihr die ganze Welt unerreichbar fern vor, als sehe sie nur durch ein Fenster hinein. Eines, das von innen fest verriegelt war. Das waren die Momente, in denen die Widmungen ihr wie ein zweites, ein anderes Fenster erschienen. Eines, das weit offenstand, in das man hineinkriechen und sich in aller Ruhe umsehen konnte.

      Es gab melodramatische Widmungen, bemüht komische, solche, die von Vertrautheit und Verbundenheit und Freundschaft erzählten. Sie waren oft peinlich. Und oft richtig gut. Alle waren anders, nie glichen sie einander. Auch wenn sich manche Floskeln wiederholten: Da war immer noch ein bisschen mehr als ein simpler Glückwunsch oder ein schmuckloser Gruß. Allein schon die verschiedenen Handschriften waren häufig gesprächiger als das, was die Wörter sagten. Gesprächig waren sie jedenfalls alle, eine Ausnahme war Hanna nie untergekommen. Auch die knappen und hastigen. Selbst die lust- und lieblosen. Die Widmungen waren Hannas Seifenoper und ihre Tragödie, ihre Telenovela, ihr Laienspiel. Groteske, Burleske und Melodram. Ihre Reality Show. Oft alles zugleich. Vor allem aber waren sie ihr Heim in einer anderen Welt, ihre Möglichkeiten.

      Von Autoren persönlich signierte Exemplare interessierten sie überhaupt nicht, im Gegenteil. Autoren interessierten sie generell nicht mehr. Wenn sie ehrlich war, fand sie Autoren sogar zunehmend unsympathisch. Wenn sie an die Lesungen dachte, die sie früher einmal besucht hatte, mit Signierstunde, einem Glas Wein im Anschluss und der Möglichkeit zu einem Gespräch, kam sie sich ganz verschwendet vor an diese Abende. Nein, die Widmungen, die sie dazu bewogen, noch immer Büchersammlerin zu sein, sahen ganz anders aus. Sie nahmen sich nicht wichtig. Genau deshalb waren sie es.

      Wer verkaufte ein Buch, das er von seinem Vater zum Abitur bekommen hatte, wer gab den Lieblingsroman weg von einer, die ihn liebte? Wer schenkte einem anderen Gedichte – hat er sie auch vorgelesen oder hat er sie bloß gekauft und weggeben, womit seine Rolle schon zu Ende erzählt gewesen wäre? War es leicht gewesen, sich von dem Buch zu trennen? War der Beschenkte tot oder pleite oder bloß mit jemand anderem glücklich? Aus den Fragen wuchsen ganze Geschichten heraus, schnell wie ein Gewitter, wie die magische Bohnenranke aus dem englischen Märchen oder die Kürbispflanzen im Garten von Hannas Oma. Unberechenbar und unaufhaltsam und wild. Die Widmungen waren das Wurzelwerk. Sie hielten Hannas Geschichten im Boden fest, sodass sie bis in die Wolken wachsen konnten, ohne fortzufliegen. Sie wurden alle im Präteritum erzählt, wie beinahe jede Geschichte. Wenn Hanna die Bücher in den Händen hielt, hatten sie längst aufgehört, Geschenke zu sein. Sie waren nur noch Vergangenheit. Eine Erinnerung an Bindungen, Freundschaften, Liebschaften, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch vergangen waren und die sich nur mit ausgesprochen viel Fantasie von einer Außenstehenden wie Hanna rekonstruieren ließen. Hanna liebte das sehr, die Erinnerungen anderer Leute, und sie fühlte sich wohl in ihrer Rolle als Dritte, die weder den Verfasser der Widmung kannte noch den Beschenkten und somit niemandem eine Rechtfertigung schuldete, weshalb sie ihre Sonntage am liebsten zwischen abgegriffenen, aussortierten, heimatlosen Buchdeckeln verbrachte. Sich selbst schuldete sie auch keine Rechtfertigung. Eine Beschäftigung musste schließlich jeder haben, und ihre tat niemandem weh, kostete wenig Geld und ging keinen etwas an.

      Anfangs war sie nicht wählerisch gewesen. Sie hatte sich auch gefreut, wenn sie zwischen den Seiten ein vergessenes Lesezeichen entdeckt hatte. Manche legten Zeitungsausschnitte in die Bücher, Rezensionen zum Beispiel, oder ein Interview mit der Autorin. Einkaufszettel waren als Lesezeichen auch recht beliebt, oder Postkarten, leere Briefumschläge oder die Rechnung aus der Buchhandlung. Diese vergessenen Gegenstände erzählten natürlich auch kleine Geschichten, aber Hanna wurde schnell klar, dass Widmungen doch etwas ganz anderes waren, nicht so zufällig und austauschbar wie diese Fundsachen, die jederzeit zwischen den Seiten herausfallen konnten, ohne dass man es auch nur bemerkte. Und darum hatte sie sich spezialisiert, hatte die Spielregeln erdacht und weiterentwickelt und streng darauf geachtet, dass sie eingehalten wurden. Sie war die Meisterspielerin und die Schiedsrichterin.

      Mit den Fingerspitzen strich sie an einem Taschenbuch entlang. Die Seiten waren weich und stockfleckig, der Buchrücken vom vielen Aufschlagen zerfurcht, selbst im Deckel war ein Eselsohr. Es war beinah unangenehm, das Buch zu berühren, so, wie man sich manchmal scheut, sehr alte Menschen anzufassen, und sich dann dafür schämt, umso heftiger die fleckigen Hände schüttelt und umso kräftiger umarmt. Sie strich mit Bedacht noch mal über den Buchschnitt und schlug es beherzt auf. Hannas Verdacht bestätigte sich: Das war kein Buch, das jemand geschenkt bekommen hatte. Die waren nur selten derart zerlesen, meist wirkten sie eher verdächtig gut erhalten. Sie überlegte kurz, es trotzdem zu kaufen, allein weil es sonst wahrscheinlich niemand täte. Ein Buch in einem solchen Zustand, kein bekannter Titel, der Name der Autorin sagte Hanna etwas, aber sie konnte ihn nicht zuordnen. Keine Chance, ein Fall für die Altpapiertonne auf irgendeinem Hinterhof. Hanna legte das Buch beiseite, aber dann besann sie sich auf die Spielregeln und stellte es in die Kiste zurück, aus der sie es gezogen hatte, setzte ihren Blick auf, den sie immer aufsetzte, wenn sie eine Buchkäuferin spielte, die sich umentschied, und griff nach einem Buch, das besser in Schuss schien.

      Nach welchen Kriterien der Antiquar die Bücher für den Flohmarkt auswählte, war Hanna nicht ganz klar. Es gab allerdings keine Krimis, keine Fantasyromane und keine fremdsprachigen Titel, keine Rezeptbücher und keine Bildbände; die Sachbücher waren erlesen und dementsprechend nicht zahlreich. Damit kam der Stand ihren Interessen sehr gelegen. Krimis und Kochbücher wurden selten verschenkt, Bildbände schon, aber dann in aller Regel ohne Widmung.

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