Die Stille der Gletscher. Ulrike Schmitzer
Wolken spiegeln sich auf seiner Oberfläche. Ich muss erst eine kurze Pause einlegen, bevor ich ein paar Aufnahmen machen kann. Mein Herz rast, ich kann meine Atmung gar nicht mehr kontrollieren, ich keuche nur noch. Die Ausrüstung hängt wie Blei auf meinem Rücken. Die Digitalkameras werden zwar immer kleiner und leichter, aber das Stativ ist immer noch so schwer wie früher.
»In drei Stunden schaffen Sie den Aufstieg locker«, hat der Gletscherhydrologe gesagt. »Ich warte oben auf Sie, ich gehe schon zeitig in der Früh weg, um mit meinen Messungen fertig zu werden«, hat er gesagt.
Ich habe jetzt sechs Stunden gebraucht. Dabei bin ich wirklich zügig gegangen.
»Trau nie den Zeitangaben der Einheimischen«, hat mir schon mein Auftraggeber von der Umweltschutzorganisation gesagt. »Minimum eine Stunde dazurechnen!« Dann hat er mich von oben bis unten gemustert und gemeint, zwei Stunden wären vielleicht realistischer. Und gegrinst hat er dabei, aber alles andere als nett.
Der Gletscherhydrologe sieht mich von Weitem und kommt mir entgegen.
»Jetzt wird’s aber Zeit«, sagt er, »in einer Stunde müssen wir absteigen, sonst kommen wir in die Dunkelheit.«
Das Licht flimmert blau. Der Hydrologe zappelt herum, ihn fotografisch einzufangen, ist nicht leicht.
»Das ist das Gold der Zukunft«, sagt er und zeigt auf den Gletschersee.
Er zeigt mit dem Finger auf den See. So hat er sich vermutlich für ein Boulevardblatt schon einmal in Pose gesetzt.
»Bereits jetzt leidet die Hälfte der Menschheit unter Wassermangel.«
»Ich nicht«, sage ich, um ihn ein wenig aufzulockern. »Mir rinnt das Wasser den Rücken herunter.«
Er sieht mich kurz irritiert an und sagt dann: »Wenn wir es schaffen, den Temperaturanstieg auf zwei Grad zu begrenzen, dann verlieren die Gletscher bis zum Jahr 2100 rund vierzig Prozent ihrer Masse. Wenn es um vier Grad wärmer wird – wovon ich persönlich ausgehe –, dann verlieren die Gletscher zwei Drittel ihrer Masse.«
»Was heißt ›verlieren‹, wo ist das Wasser dann?«, frage ich.
»Das ist dann im Meer und lässt den Meeresspiegel um gut zwanzig Zentimeter steigen. Global betrachtet.«
»Nur durch Gletscherwasser? Ohne Grönland und Antarktis?«
»Ja, nur durch Gletscherwasser. Denken Sie nur, zwanzig Millionen Menschen sind abhängig vom Gletscherwasser. Wenn der letzte Tropfen abgeronnen ist, dann gibt es eine Katastrophe.«
Ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren. Sie sind immer alle so mitteilungsbedürftig. Still beobachtet zu werden hält niemand mehr aus. Ich weise ihn an, sich hinzuknien und seine Wasserproben zu nehmen. Er fragt, wo er hinsehen soll. Ich sage, er soll sich einfach auf seine Arbeit konzentrieren und mich vergessen. Das dürfte ziemlich schwierig sein, er bewegt sich sehr ungelenk. Aber das Licht ist sensationell. Die Sonne verschwindet ganz flach hinter dem Gipfel und flimmert noch ein wenig.
Beim Abstieg wird es schon duster. Ich bin jetzt froh, dass er viel redet. Ich bemühe mich, genau in seinen Tritt zu steigen, der Steig ist an manchen Stellen sehr eng, und die Felswand fällt steil ab. Beim Aufstieg ist mir das nicht aufgefallen. Ich rutsche aus, er geht vor mir und bremst mich ab. Er erzählt von der Kleinen Eiszeit.
»Das war die beste Zeit für die Gletscher. Danach, so um 1900, haben die Gletscher angefangen sich zurückzuziehen. Und das tun sie noch heute. Wir sehen also noch immer die Nachwirkungen der Kleinen Eiszeit«, sagt er. »Sie bestimmen jetzt gerade die Oberflächenmassenbilanz der Gletscher, das heißt sie bestimmen, wie viel Schnee jedes Jahr auf den Gletschern landet und wie viel Eis jedes Jahr abschmilzt. Mit dem Modell können sie dann das Fließverhalten der Gletscher simulieren.«
Ich höre schon gar nicht mehr zu, denn es ist finster, und ich sehe meine eigenen Füße nicht mehr. Er packt zwei Stirnlampen aus und gibt mir eine.
»Wir hätten uns früher verabreden sollen«, sagt er.
»Wie lange haben wir denn noch?«, frage ich, inzwischen ohne jede Orientierung.
»Wir haben noch rund eine halbe Stunde im felsigen Gebiet, dann geht’s leichter.«
Er geht minutenlang schweigend vor mir her. Dann dreht er sich plötzlich um und leuchtet mich direkt an. Er blendet mich, ich halte mir die Hand vor die Augen.
»Diese Massenbilanz beunruhigt mich«, sagt er.
Ich habe jetzt wirklich andere Sorgen als eine aufregende Massenbilanz. Er könnte mir zum Beispiel mein Stativ abnehmen und es tragen.
»Wir haben weltweit einige Gletscher, von denen wir keine schlüssigen Daten bekommen.«
»Was heißt ›schlüssige Daten‹?«, frage ich.
»Wir modellieren den Niederschlag, die Ablation, den Abfluss, wir berechnen die Albedo, die Sonneneinstrahlung, den Temperaturanstieg, alles! Aber uns fehlt Gletscherwasser. Uns fehlen enorme Mengen an Gletscherwasser!«
»Wie gibt’s das?«, frage ich.
»Ich verstehe das nicht. Damit sind meine Modellrechnungen wertlos.«
»Aber es muss doch eine Erklärung dafür geben«, sage ich höflichkeitshalber und trete auf der Stelle. Ich will weitergehen, bevor es noch finsterer wird. Er dreht sich endlich wieder um und geht weiter.
Vielleicht zwacken die Kraftwerke an den Hängen der Gletscher Wasser ab, vielleicht verdunstet wegen der Klimaerwärmung einfach mehr Wasser?
»Und das Eigenartige ist«, sagt er, als ob wir unser Gespräch nie unterbrochen hätten, »dass das in Tourismusregionen passiert.«
9
Der Professor hat mich mit dem Auto abgeholt, wir sind zeitig losgefahren und dann gleich zum Gletscher aufgestiegen. Wir haben vor gut einer Stunde den Touristenpfad verlassen und sind jetzt in unwegsamem Gelände. Der Professor weist den Weg, wo ich keinen Pfad erkennen kann.
Plötzlich duckt er sich.
»Pass auf«, sagt er, »dass sie uns nicht sehen.«
Ich kann weit und breit niemanden sehen.
»Hinter dem Felsvorsprung«, sagt er ganz leise. »Da stehen sie.«
Wir schleichen uns an, robben auf den Felsvorsprung zu, ich halte den Fotoapparat schussbereit. Doch wir sehen nichts. Es ist niemand da.
»Ich verstehe das nicht«, sagt der Professor. »Da sind sie gestanden.«
Er sieht mich fragend an. Ich nehme den Fotoapparat wieder herunter.
Der Professor läuft ewig auf und ab, den Blick nach unten gesenkt. Ich fotografiere ihn. Er winkt verärgert ab. Er sucht den Boden nach Spuren ab. Plötzlich hebt er triumphierend etwas in die Höhe.
»Hier«, sagt er, »ein Beweis! Und ich glaub schon, ich spinn!«
Der Professor hat einen Schlüsselanhänger samt Schlüssel in der Hand. Er gibt ihn mir. »Mountain Security« steht auf dem Anhänger.
»Was ist das?«, frage ich.
»Die gibt’s nicht!«, sagt der Professor. »Eine Mountain Security gibt’s nicht.«
Wir begutachten den Schlüssel. Es ist ein Autoschlüssel.
»Da hat wohl jemand sein Auto vergessen«, sagt der Professor und grinst endlich.
Dann sucht er weiter.
»Und da ist ein Bohrloch, schau!«
Ich fotografiere das Bohrloch.
»Das ist eine Schweinerei«, sagt er. »Was haben die hier zu bohren!«
»Wir sollten das Auto suchen«, sage ich.
Er nickt.
»Aber wo?«, frage ich.
»Da