Die Tunnelwelt. Samuel White

Die Tunnelwelt - Samuel White


Скачать книгу
und ließen dann den steinernen Ring hinter sich. Dort hatten die Mönche und ihre Soldaten ihr Zeltlager aufgebaut. Tinko wurde mitten hinein geführt. Gestern noch wurden hier die Kämpfe um die Stadt ausgetragen, teilweise war der festgetretene Sand dunkelrot vom Blut der Gefallenen und Verletzten. Tinkos Angst wurde immer größer, immer stärker zog er an seinem Arm und versuchte, sich aus dem Griff des Soldaten zu befreien. Aber der beachtete seine Bemühungen gar nicht. Vielleicht war Tinko auch einfach zu klein und leicht und dünn. Nach einer Weile kamen sie an ein Zelt, das größer und prunkvoller schien als alle anderen. Vor dem Zelt saß ein alter Mönch in prunkvollen Gewändern.

      „Pater Vitorius“, begrüßte der Mönch mit dem festen Griff den älteren.

      „Bruder Agnus, was habt Ihr mir wieder mitgebracht?“

      „Einen Dieb, befürchte ich. Er versuchte, Obst zu stehlen. Und wenn ich mir den Schmutz in seinem Gesicht angucke, muss ihm das auch schon irgendwann mal gelungen sein.“

      „Ich hab nichts gestohlen, wirklich nicht!“, brach es aus Tinko heraus. Der Prunkvolle stand auf von seinem leinenbespannten Stuhl, ging einen Schritt auf Tinko zu und ging in die Hocke, sodass er ihm direkt in die Augen gucken konnte, ohne dass der Kleinere hochschauen musste.

      „Wie ist dein Name, Junge?“

      Irgendetwas in dem Blick des Mannes bewirkte, dass er ruhiger wurde. Er hörte auf, an seinem Arm zu zerren und blieb ruhig stehen. Dann sagte er: „Tinko, ich heiße Tinko.“

      „Tinko, ein interessanter Name.“

      „Ich mag ihn nicht. Die anderen Jungs machen Witze über meinen Namen.“

      „Hm, würdest du gern einen anderen Namen haben?“

      Tinko sah den Mann mit großen Augen an. Ging das denn?

      „Nun, das ist nichts, was wir über das Knie brechen müssen. Was du brauchst, ist erstmal ein Bad, damit du sauber wirst, und dann ein herzhaftes Stück Fleisch, damit du uns nicht zusammenbrichst. Bruder Agnus wird sich um dich kümmern. Und wenn ich von der Unterredung mit König Robur wieder zurück bin, dann reden wir wieder miteinander. Ist das in Ordnung?“

      Tinko wusste nicht, was er sagen sollte. Es dauerte einen Moment, bis er sich gesammelt hatte und dann doch ein paar Worte herausbekam.

      „Muss ich wirklich baden?“

      Die großen Leute um ihn herum fingen an zu lachen. Dann sprach ihn der Mönch wieder an, den die anderen Bruder Agnus nannten. „Sieh das als deine Bestrafung an! Weißt du überhaupt, was Seife ist?“

      Arlon Brant

      Alles hatte sich verändert. In einem Moment war Arlon Brant noch damit beschäftigt, die Ordensbrüder der Architekten in die Hölle zu schicken, im nächsten Moment war er gezwungen, vor ihnen zu buckeln. Er war wütend. Er wollte seine Rache haben. Er würde den Tod seiner Frau und seiner Tochter nicht vergessen. Doch jetzt im Moment war nicht die richtige Zeit dafür. Er wusste das. Und er konnte warten. Trotz allem wütete der Zorn in seinen Eingeweiden. Er wusste nicht, was Prinz Robur, oder jetzt ja König Robur, dazu bewogen hatte, seinen Kurs zu überdenken, die weißen Fahnen zu hissen und die Jünger der Architekten in die Stadt zu lassen. Arlon Brant war sich sicher, dass der neue König seine Gründe hatte. Er würde nicht kopflos handeln wie sein Vater, der ehemalige König Ogur. Jetzt im Moment war König Robur zusammen mit Pater Vitorius, dem Oberbefehlshaber der architektischen Truppen, in der königlichen Schreibstube. Er wusste nicht, worüber die beiden genau verhandelten. Ihm wurde nur befohlen, vor der Tür zu warten. Er hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, sich zu waschen. Er trug immer noch den Schmutz der unterirdischen Katakomben auf seiner Haut, seiner Kleidung und in seinen Haaren. Dort, wo die Mönchssoldaten Tunnel gegraben hatten, um die Belagerung von innen zu durchbrechen. All die Anstrengungen erschienen so sinnlos im Nachhinein. Aber wie hätten die Jünger der Architekten auch ahnen können, dass sich im Palast die Machtverhältnisse so schnell ändern würden? Arlon Brant war sich sicher, dass Ogur seine Krone nicht freiwillig an seinen ungeliebten Sohn übergeben hatte.

      So hing er seinen Gedanken nach und ging vor der Schreibstube auf und ab. Irgendwann öffnete sich die Tür, und einer der königlichen Beamten bat ihn hinein. Der Raum war keine Schreibstube im eigentlichen Sinne. Dort wurde nicht viel geschrieben. Es war im Grunde ein Repräsentationsraum und gut geeignet für intime Unterredungen diplomatischer Natur. Die Wände waren besetzt mit vergoldetem Stuck und gerahmten Spiegeln. Dominiert wurde der Raum von einem großen Schreibtisch, hinter dem der König auf einem Stuhl saß. Seine Besucher saßen auf ähnlichen Stühlen vor dem Schreibtisch. Diesmal war es nur ein Besucher. Er trug eine dunkelrote Tunika mit feinen, goldenen Verzierungen und hatte einen kahlrasierten Schädel. Seine rituelle Kopfbedeckung, die dunkelrote Kappe mit der goldenen Bordüre, hatte er abgenommen. Trotzdem erkannte Arlon Brant das Oberhaupt der Mönchssoldaten, Pater Vitorius. Er atmete einmal tief ein und aus, um seinen Puls zu beruhigen und seinen Hass runterzuschlucken. König Robur hatte sich verändert seit ihrem letzten Treffen. Und das war erst vor zwei Tagen gewesen. Damals, in einem Harnisch aus Stahl, der die Patina aus vielen Kämpfen trug, das Haar ganz wild und fettig, versuchte er, mit wilden Reden und derben Witzen die Moral der Terrorvögel aufrechtzuerhalten, obwohl man ihm selbst die Müdigkeit und Resignation schon ansehen konnte. Arlon Brant hatte nur knapp einen Mordanschlag auf den Prinzen verhindern können. Der Prinz hatte ihm als Reaktion darauf die Verantwortung über die Stadtwache übertragen. Ein Posten, den vorher Arlon Brants Vater innegehabt hatte. Sein Vater, Gorgurus, war einer der wenigen Soldaten, der von den Mönchssoldaten in Kriegsgefangenschaft genommen wurde. Er und eine Handvoll anderer Stammeskrieger hatten architektische Gefangene gefoltert und verstümmelt. Arlon Brant hätte vielleicht das Gleiche gemacht. Vielleicht würde er es auch immer noch machen, aber er war Prinz Robur verpflichtet und beugte sich seinem Befehl. König Robur wohlgemerkt. Und so sah er jetzt auch aus. Roburs Gesicht wirkte frischer, möglicherweise hatte er doch wieder etwas schlafen können. Seine Haare waren sauber und glatt, seine Kleidung bestand nicht mehr aus feinstem Stahl, sondern feinster Seide und feinstem Samt. Über einem Wams aus braunem Samt trug er einen roten Umhang aus Seide, den Rand mit Hermelin besetzt. Der Umhang hing über seiner linken Schulter, sodass sein linker, verkrüppelter Arm verdeckt wurde. Eine makellos weiße Strumpfhose bedeckte seine Beine, und seine Füße steckten in aufwändig gearbeiteten Schnallenschuhen. Er sah wirklich wie ein König aus. Nicht wie sein Vater, bei dem die königliche Ausstrahlung immer aufgesetzt gewirkt hatte.

      „Arlon Brant, mein treuer Freund“, sagte Robur mit einem breiten Lächeln, als er die Schreibstube betrat.

      „Mein König“, antwortete er nur und verbeugte sich tief. Den Pater ignorierte er.

      „Mein lieber Freund“, fuhr der König fort „Ich freue mich, dass Ihr hier seid. Pater Vitorius und ich haben herausgefunden, dass wir in vielen Dingen einer Meinung sind. Wir sind beide der Meinung, dass etwas mehr Diplomatie zu einem etwas früheren Zeitpunkt beiden Seiten gut getan hätte und dass dadurch viele Opfer hätten vermieden werden können. Pater Vitorius möchte Euch sein Bedauern über Eure persönlichen Verluste ausdrücken.“

      Das war etwas, das Arlon Brant nicht erwartet hatte. Woher wusste der Mönch von seiner Frau und seiner Tochter? Er blickte dem Pater direkt in die Augen und sagte dann: „Vielen Dank. Woher wisst Ihr davon?“

      „König Robur berichtete mir von Eurer außergewöhnlichen Tapferkeit, als Ihr den Anschlag auf sein Leben vereitelt hattet. Dabei kam zur Sprache, welcher Schicksalsschlag Euch getroffen hatte. Und nun noch die Sache mit Eurem Vater.“

      „Mein Vater hat sicherlich verdient, was immer Ihr für eine Strafe aussprecht.“

      „Nun gut“, sagte Robur und riss das Gespräch wieder an sich. „Arlon, ich habe Euch kommen lassen, weil ich einen wichtigen Auftrag für Euch habe. Die Jünger der Architekten haben uns nicht ohne Grund belagert. Es gibt uralte Verträge zwischen den ehemaligen Herren von Karstheim und dem Orden. Der Orden der Architekten sichert Karstheim Eigenständigkeit zu, und die Stadt verwahrt dafür einen wichtigen Gegenstand, den die Ordensbrüder sich hin und wieder ausleihen dürfen, wenn sie ihn benötigen. Für ein wichtiges Ritual, eine Art Gottesdienst, um den Plan der Architekten


Скачать книгу