Venusatmosphäre. Hanno Millesi

Venusatmosphäre - Hanno Millesi


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die Kleider neben ihr in der schneeweißen Bettlandschaft, in der ihr Körper kaum mehr als eine unschuldige Unebenheit ausmachte.

      Sie holte einen Arm, einen nackten Arm unter der Bettdecke hervor, wo er ihren Körper streifte und sie darauf aufmerksam machte, dass allmählich wieder Empfindung, Gefühl, Durchblutung eingesetzt haben dürften. Ohne hinzuschauen griff sie neben sich, traf auf nichts außer der allmorgendlichen Weiße, die sich ihrer aktuellen Verfassung jedoch weitgehend verschloss, da sie mit Brechreiz zu kämpfen hatte. Nichts, ohne jegliches Hindernis, bis dann ihre Hand plötzlich, unerwartet und mindestens ebenso erschreckend wie der erste Augenaufschlag etwas nicht zu Identifizierendes ertastete.

      Einen Augenblick lang kam es ihr so vor, als greife sie von irgendwo außerhalb auf ihren eigenen Leib. Eine schlimme Erfahrung, zumal für jemanden, der sich bewusst ist, erst kürzlich die Fassung verloren zu haben. Eine ernüchternde Abkühlung, da sich das Phantom nicht zurückzuziehen schien, sondern Gestalt annahm. Irgendetwas lag da, und dieser Umstand wirkte sich wie ein Kübel Eiswasser aus, der über ihrem lädierten Leib ausgeleert wurde. Sie setzte sich auf, schnellte vielmehr hoch, blickte um sich, als hege sie den Verdacht, das ganze Bett sei mit winzigen krabbeligen Insekten, mit hirnlosen Kriechtieren übersät. Den Umgang mit Alkohol oder Halluzinogenen gewöhnt, wartet man ja im Grunde auf den Moment, in dem es so weit ist, damit endlich eintritt, was die warnenden, gut gemeinten Stimmen fortwährend prophezeit haben.

      Die Bettdecke, die im Zuge dieser wie geschmiert funktionierenden Bewegung über ihren Oberkörper rutschte und ihre Brüste freigab, zog sie instinktiv mit angewinkeltem Arm hoch, als flüstere ihr eine sprachlose innere Stimme zu, dass sie nicht alleine sei.

      Tatsächlich. Anstatt einer wuselnden Vielzahl Ungeziefers, erblickte sie eine einzige Ausbuchtung, weit voluminöser als das, was sich in der Verlängerung ihres Oberkörpers unter der Bettdecke abzeichnete. Wer oder was um alles in der Welt lag da neben ihr? Offensichtlich schien es in einem ähnlich desolaten Zustand zu sein wie sie selbst bis vor kurzer Zeit, womit also sie – jenseits des Heimvorteils, der sich zuweilen als zusätzliche Belastung herausstellt – sozusagen über einen gewissen Vorsprung verfügte, da sie ja bereits aus ihrer Bewusstlosigkeit zurückgekehrt war.

      Die Welt, die Umgebung, die eben noch aus allen Ecken und Nischen, Winkeln und Lücken gedröhnt hatte wie eine heisere Maschine, in die sie unvorsichtigerweise geraten war, die dann, jenen gewaltigen Schreck, der sie durchfuhr, begleitend, gelärmt, gehupt, wie ein umkippendes Klavier geklungen hatte, schwieg jetzt mit einem Mal. Es herrschte Totenstille, die von einem Röcheln durchbrochen wurde. Die Stille trat vor diesem unsäglichen Geräusch zurück, präsentierte es, wies durch die eigene Zurückhaltung unmissverständlich darauf hin.

      Da lag einer – und wiewohl sie diesen Gedanken angestrengt und mit zusammengekniffenen Augen wegwünschte, wie sie alles, den ganzen Morgen, den Tag, das Erwachen, alles, was vorher war und was unvermeidlicherweise kommen würde, hinfortwünschte, kehrte ihre Erinnerung Stück für Stück wieder zurück. Je intensiver sie sich in die Bettwäsche und mit Hilfe der Bettwäsche in die Vergangenheit verkriechen wollte, desto deutlicher nahm eben diese, ihre verschollen geglaubte Vergangenheit, Gestalt an. Umrisslinien liefen einwandfrei ineinander, umschlossen Flächen, die augenblicklich die dazugehörige Farbe aufwiesen, Volumen bekamen, wodurch sie nur noch die abgelaufene Zeit von der Wirklichkeit unterschied.

      Entweder war es ihr unbeherrschtes Schluchzen gewesen oder die verzweifelte Bewegung, mit der sie sich aus der Gegenwart zu wälzen versuchte, um einer sich zurückmeldenden Erinnerung zu entwischen, irgendetwas musste das neben ihr zugedeckt liegende Volumen auf ihre oder zumindest auf die eigene Existenz aufmerksam gemacht haben. Jedenfalls begann es sich zu bewegen.

      Für sie war das beinahe schon zu viel. Erwachte für ihr Verständnis doch da, wenige Zentimeter neben ihr, eine Katastrophe unter einer weichen Schale zu einem entsetzlichen, einem neuen Leben. Einem Leben, das für sie zu einem neuen Problem werden könnte. Eine morgendliche Begegnung unter diesen Umständen galt es zu vermeiden, koste es, was es wolle. Lieber würde sie sich tot stellen. Oder schlafend. In erster Linie unansprechbar und ohne Mitteilungsbedürfnis. Und ahnungslos. Vielleicht würde sich ihr Gast, von dem sie allmählich ein paar Gesichtszüge zusammenbekam, eine warme Stimme und einige immer wiederkehrende Vokabeln – von denen sie allerdings nicht sagen konnte, ob sie diese Wiederholung wirklich wert gewesen oder nur aufgrund ihrer Penetranz aufgefallen waren –, vielleicht würde dieser Gast ja ganz von selbst das Weite suchen, hätte er erst einmal mitbekommen, wo er sich befand. Und mit wem. Ihm stand das zwar noch bevor, seine Situation konnte aber dennoch vorteilhafter genannt werden. Schließlich kamen sie nicht bei ihm zu Hause zu sich, von wo sie mit ein paar unvermeidlichen Worten hätte abhauen können, sondern lagen nahezu bewegungsunfähig und ohne Erinnerungsvermögen bei ihr herum. Er könnte also, im Gegensatz zu ihr, ganz einfach aufstehen, sich ankleiden – bei diesem Gedanken erschauderte sie einmal mehr –, ein paar unvergessliche, ehrlich gemeinte Komplimente flöten und es eilig haben. So würde sie sich im umgekehrten Fall jedenfalls verhalten. Kurz und bündig, ohne jeglichen Vorwurf und nichtsdestoweniger höflich, mehr aber auch nicht, denn heute war es Tag und nicht gestern Abend, und ihr Verstand wäre gerade eben zurückgekehrt, nachdem er sich vorübergehend verabschiedet hatte.

      Sie beschloss, wie tot dazuliegen und hoffte inständig, er würde sich einer ähnlichen Verhaltensweise bedienen. Schließlich hatte sie ihn sich ja offenbar mitgenommen, also konnte davon ausgegangen werden, dass er über blendende Manieren und ein kolossales Taktgefühl verfügte, denn auf diese Eigenschaften bestand sie beim männlichen Geschlecht für gewöhnlich. Alles könnte wunderbar problemlos funktionieren. Während er sich im Badezimmer zu schaffen machen würde, sähe sie ihn vor sich, wie er sich am vorangegangenen Abend auf dem Sofa über sie gebeugt hatte, während er sich anzöge, würde sie sich daran erinnern, dass er mit geschickten Fingern ihre Bluse aufgeknöpft hatte, und anstatt des Lichts, das in der Folge im Schlafzimmer ausgemacht worden war, würde ganz einfach die Tür ins Schloss fallen.

      Von einer dermaßen schmerzlosen Lösung ihres Problems war sie allerdings noch mehr als einen Augenaufschlag entfernt. Schließlich könnte er auch eine ganz andere Auffassung vertreten. Eventuell war er gestern gar nicht ihr vergleichbar außer sich gewesen, möglicherweise hatte er gar nicht Urlaub von der Vernunft genommen, sondern jedes kleinste Detail genießerisch über sich ergehen lassen. Am Ende hatte er gut geschlafen, und als Nächstes käme ein muskulöser, ein behaarter Arm zu ihr herüber, um aufzufrischen, was nachts unweigerlich passiert sein musste. Einer solchen Vorstellung konnte sie nur mit dem felsenfesten Entschluss begegnen, sich unter keinen Umständen zu bewegen. Selbst wenn er versuchen sollte, sie mit beiden Händen wachzurütteln, würde sie keinerlei Lebenszeichen von sich geben. Irgendwann müsste er erwägen, sie hätte die Nacht, die Ekstase, die ganze Hemmungslosigkeit nicht überlebt und würde sich in Windeseile aus dem Staub machen.

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