Die vier Weltteile. Hanno Millesi

Die vier Weltteile - Hanno Millesi


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mehr am Kragen gepackt und weggezerrt werden, ausgerechnet in einem störrischen Verhalten wie dem seinen schien mir allerdings ein Schlüssel dazu zu liegen, die gesamte Atmosphäre in die herbeigesehnte Alltäglichkeit zu überführen.

      Ehe ich noch daran gehen konnte, die Aufmerksamkeit des Touristenpärchens auf mich zu lenken und mit der zu mir gewandten Handfläche ein paar Sekunden lang Wischbewegungen vor meinem Gesicht anzudeuten, stellte sich mir die Frage in den Weg, wann ich selbst eigentlich das letzte, das entscheidende Mal von der Hand eines Erwachsenen aus meinen Träumen gerissen worden war. Geschah das damals auch bloß, um die Glaubwürdigkeit dessen, was dieser Erwachsene einem anderen Erwachsenen zu signalisieren gedachte, zu unterstreichen? Würde ich, indem ich Iggy sinnbildlich aus dem Wasser fischen oder, noch sinnbildlicher, von einer Laufbahn als Seeräuber abhalten würde, meine Gesten zu einem Knäuel von Fäden verwickeln, an denen ein Heranwachsender – Iggy nämlich – wie eine Marionette zu hängen käme?

      Zu meiner Überraschung antwortete der Tourist der verwirrten Frau – offenbar ohne deren Verwirrung zu bemerken – mit einem Kopfnicken, ähnlich dem von vorhin, in das auch seine Begleiterin prompt wieder einfiel. Während ich mich immer hoffnungsloser in die Stränge der von mir geplanten Manipulation verstrickte, zeigte der Mann auf den Durchgang in den angrenzenden Saal und gab, indem er die Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger mehrfach anhob und wieder sinken ließ, mit verblüffend eloquenten Bewegungen zu verstehen, dass er einen Ort ein paar Säle weiter meinte.

      Anders als für Wanda, die, wie sich später herausstellen sollte, annahm, die drei wären vor einem Märtyrer geflüchtet, der ein paar Säle, von dem, in dem wir uns befanden, entfernt in Erscheinung getreten sei – was für ein absurder Gedanke! –, stand für mich außer Frage, dass eben dort, ziemlich weit weg, ein solcher entdeckt und festgesetzt worden sei, woraus sich auch erklärte, weshalb das Stockwerk nach wie vor abgeriegelt, jedoch weder unter Tränengas gesetzt noch von einer Abteilung Einsatzkräfte in voller Montur gestürmt worden sei. Während Wanda und ich also erneut aneinander vorbeischauten, rannten Emily, Konrad und Iggy – der seine Piratenkarriere zugunsten weiterer Berufsanregungen, die er sich jetzt, da er über den Blick dafür verfügte, von den Bildern in diesem Museum versprach, aus eigenen Stücken verschoben zu haben schien – in die Richtung, die der Tourist ausgerechnet der verwirrten Frau als Antwort auf ihr Gestammel gewiesen hatte. Tessa stapfte deutlich langsamer, jedoch entschieden unaufhaltsam hinterher, und einen Moment lang kam es mir so vor, als lege sie es diesmal darauf an, auf so viele Fugen wie möglich zu treten, als revanchiere sie sich damit für die Geduld, die es sie zuvor gekostet hatte, ihnen auszuweichen.

      Obwohl Wanda und ich – das stand für mich fest – der Situation ein unterschiedliches Maß an Bedrohung beimaßen, kam es uns beiden wie eine denkbar schlechte Entscheidung vor, ausgerechnet dorthin aufzubrechen, wo es etwas gab, das, wie immer man es verstehen wollte, nicht gerade den Eindruck erweckte, der richtige Ort für Kinder und friedliebende Erwachsene zu sein. Die paar Momente, die wir für eine Reaktion benötigten und die den Kindern einen gewissen Vorsprung einräumten, lagen also meiner Meinung nach eher darin begründet, dass sowohl Wanda als auch ich, die ebenso spontan gestellte wie unausweichliche Frage, wessen Schuld das nun wieder sei, an uns abprallen und ohne großes Zutun dem jeweils anderen – ich Wanda und Wanda mir – zufallen lassen wollten, wobei jedoch keiner von uns beiden daran dachte, dabei mit Entschiedenheit vorzugehen. Ping-Pong-Schlägern vergleichbar, die einen Ball so lange zurück zum Gegner befördern, solange er wie zufällig genau auf ihre jeweilige Schlägerfläche trifft.

      Schließlich aber heftete ich mich im Anschluss an einen in höchster Dringlichkeit ausgesandten Blick Richtung Wanda, den trotz allen Unverständnisses – über das nachher noch zu reden sein würde – akute Einigkeit geschärft hatte, den Kindern an die Fersen und spürte, wie Wanda in meinem Rücken, augenscheinlich von den gleichen Gefühlen geleitet, sich ebenfalls auf den Weg machte. Einen Saal weiter hatten wir Tessa zwar bereits überholt, Iggy und Konrad waren in unserem Blickfeld aufgetaucht – Iggy, der größere, drehte sich immer wieder um und lief ein paar Schritte lang rückwärts, als empfange er den langsameren Konrad mit offenen Armen –, Emily jedoch schien bereits den daran angrenzenden Saal erreicht zu haben.

      Ein Gemäldezyklus, der offenbar den Jahreszeiten oder einzelnen Monaten gewidmet war, und von mir ungeachtet der sich womöglich zuspitzenden Gefahr im Vorbeilaufen aus dem Augenwinkel heraus betrachtet wurde, vervollständigte die sonderbare Stimmung, die sich aus einer Mischung aus Ausgelassenheit und Bedrohung zusammensetzte, wie das Bühnenbild einer komischen Oper. Auf eine solche, eine Choreographie der Merkwürdigkeit, war es wohl auch zurückzuführen, dass weder Wanda noch ich allzu laut nach den Kindern riefen. Im ersten Moment dachte ich, das habe etwas mit der Hemmung zu tun, in derart Ehrfurcht einflößenden Räumen zu brüllen, es kann jedoch auch sein, dass das an dem Bedürfnis lag, möglichst niemanden auf uns aufmerksam zu machen.

      Der Vollständigkeit halber halte ich hier fest, was ich aus dem Augenwinkel heraus auf dem Jahreszeiten-Bild sah: Bauern und Bäuerinnen waren in einer sommerlichen Landschaft beim Picknicken (im Vordergrund links) sowie bei der Arbeit mit mächtigen Sensen in einem Kornfeld (rechts und, soweit ich mich erinnere, in der Mitte im Hintergrund) dargestellt. Insgesamt dominierten das Leben bejahende Fröhlichkeit und verbindliche Wärme die Bildfläche. Beides erstreckte sich bis in die prallen Formen der Menschen und satten Farben der Pflanzen und bezog sich sowohl auf die Mahlzeit als auch auf die Arbeit. Für so ein Bild kam nur ein Maler infrage, der einer völlig anderen Gesellschaftsschicht entstammte als das Bauernvolk und der beim Malen dieses Bildes die Ausgelassenheit im Salon seines vornehmen Auftraggebers vor Augen gehabt haben musste. Ein Moment der Flüchtigkeit, das meinem hurtigen Tempo geschuldet war, passte übrigens recht gut zum übergeordneten Thema des Gemäldes, das einen sich mehr oder weniger auf die gleiche Weise wiederholenden Augenblick im Ablauf eines Jahres abbilden wollte. Etwas, das vorbeiging und wiederkehren würde.

      Bereits im darauffolgenden Saal stießen wir auf Emily und wären beinahe einer von hinten in den anderen gekracht, denn Emily war – wie in einem Slapstick-Film, dachte ich – unmittelbar jenseits der Schwelle stehen geblieben.

      Unter den Gemälden, die in diesem Saal ausgestellt waren, stach ein hochformatiges Bild hervor, das einen jungen Mann zeigte, der mit nichts als einem Lendenschurz bekleidet war. Der aufwändige Knoten, von dem das verhältnismäßig knappe Stück Stoff zusammengehalten wurde, entschädigte mit seinem Faltenreichtum in mancherlei Hinsicht für die fehlende Farbigkeit und die Oberflächengestaltung sonstiger Kleidungsstücke. In der Darstellung ging es jedoch eindeutig um die muskulöse Nacktheit des Jünglings, die er, verstohlen gen Himmel blickend, mit der Eleganz einer seinem Körper eingeschriebenen S-Kurve präsentierte.

      Ein zweiter Blick offenbarte nicht nur, dass der Jüngling gar nicht leger an ein paar architektonischen Überresten, genauer gesagt an einer Säule lehnte, sondern an dieselbe gefesselt war, und eine Unmenge von Pfeilen seinen Körper an diversen Stellen durchbohrte. Jemand musste ihn hier angebunden – unweigerlich fiel mir unsere Situation in den herrschaftlich anmutenden Räumlichkeiten des Museums ein – und als Zielscheibe benutzt haben, wobei es eher um ein gleichmäßiges Verteilen der Pfeile, weniger um das Treffen einer bestimmten Körperstelle gegangen sein dürfte.

      »Dreizehn Pfeile«, sagte Emily, wie um Rechenschaft darüber abzulegen, was sie gemacht hatte, bis wir anderen sie eingeholt hatten.

      »Vierzehn«, verbesserte Iggy sie, obwohl er kaum Zeit gehabt hatte, nachzuzählen. Mir schien, Iggy ging es lediglich darum, etwas hinzuzufügen, als vergrößere sich die Zahl der Pfeile mit jedem, der zusätzlich in diesem Saal eintraf, wie sich mit jedem Pfeil das Leid des Mannes vergrößert haben musste, woran schließlich der Reiz der Darstellung gewachsen sein dürfte.

      »Dreizehn«, wiederholte Emily, als beharre sie darauf, dass sie das Bild schließlich als erste von uns gesehen hatte.

      »Aber einer steckt doch in seinem Kopf«, sagte Iggy erstaunlich ruhig.

      Tatsächlich ging ein Pfeil, der prominenteste, was Größe und Sichtbarkeit betraf, durch den Schädel des Jünglings. Er war seitlich zwischen Hals und Kinn eingedrungen und mitten auf der Stirn wieder ausgetreten. Iggys Rechnung stimmte, vielleicht war es die Länge des Pfeils, die vom leidenden Blick


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