Mami Bestseller 60 – Familienroman. Rosa Lindberg
durfte sie jetzt schon direkt besuchen und nicht mehr nur durch die Glasscheibe sehen und sprechen.
»Noch drei Tage«, rief sie, und ihre drei kamen ihr entgegen, der Große stand vor ihr, lehnte sich, schmal und jungenhaft, gegen sie. Susan hakte sich bei ihr ein, und Tanja, ein bißchen klein für ihr Alter, aber sie würde schon noch wachsen, umfaßte mit beiden Armen ihr cordbehostes Bein.
Nein…, dachte Juliane voller Glück und in einem kleinen Taumel einer Beinah-Seligkeit, nein, es tut mir nichts leid! Nichts – nichts – nichts!
Was auch immer war, was auch immer wird, für diese drei Kinder bin ich alles. Bin der Nabel ihrer Welt, bin – noch – ihr Herz und ihre Liebe, bin für sie der Arm, den sie brauchen, um gehen zu lernen, fest und sicher, hinein in ein Leben, das nicht immer rosig sein würde. Ich bin für sie die Sonne bei Regenwetter und ihr Mondschein beim Einschlafen. Ich bin die Speise ihrer Seelen, ihre Wärme bei Kälte.
Welche Frau, fragte sie sich, und ihr Herz weitete sich in Liebe zu diesen dreien, ist schon so vieles zugleich?
Welche?
Nicht eine.
Nur sie, die Mutter von drei genesenden Scharlachkranken, deren jetzt ein bißchen bläßliche Gesichter vertrauensvoll zu ihr emporgehoben waren und in deren Augen die Liebe so offen zu lesen war, daß es einem die Tränen hochtreiben konnte. Sie lächelte.
»Hallo…«, sagte sie und wunderte sich, daß ihre Stimme belegt war.
»Hallo!« sagte Achim männlich und lächelnd.
»Endlich!« sagte Tanja und rieb ihre Nase gegen Julianes Bauch.
»Wir warten schon ewig!« meinte Susan, deren Hang zu Übertreibungen hoffentlich nicht noch wachsen würde.
»Ewig!« sagte da Achim auch schon mit einem Seitenblick auf seine Schwester. »Weißt du überhaupt, was ewig ist?«
Susann hob den Kopf und sah ihren Bruder an. Die schmalrandige Brille, die sie tragen mußte, weil sie kurzsichtig war, vergrößerte ihre Augen enorm und hob deren langbewimperte Schönheit geradezu hervor.
»Klar!« sagte sie.
»Und?« fragte Achim.
»Wieso und?«
»Na und, was heißt es?«
»Ewig«, Susan konnte manchmal so sprechen, als rezitiere sie, »heißt einfach lange!«
»Hast du eine Ahnung! Ewig, das ist nicht nur lange, das ist ewig lange. Ewigkeit – verstehst du? Ewigkeit, Tod, Warten…«
»Hör auf!« sagte Tanja, der die geschwisterlichen Diskussionen zwischen Achim und Susan bisweilen auf die Nerven ging. So wie jetzt.
Susan hob die Nase, ließ die Brille leicht hinabrutschen, wobei Juliane dachte: Mein Gott, sie hat auch noch ein komisches Talent, und fragte: »Warum?«
»Darum!« sagte Tanja.
Jetzt würde die Diskussion zur anderen Seite weitergehen, wußte Juliane und sagte deshalb: »Ich habe sensationelle Neuigkeiten für euch.«
Drei Gesichter wandten sich ihr wieder zu. Und in allen dreien lag eine so offensichtliche und fast lüsterne Neugier, daß Juliane lachen mußte, ihre drei vor sich her in deren Zimmer schob und sich dort erst einmal setzte.
Eine Schwester kam herein, begrüßte sie. Fragte freundlich:
»Alles in Ordnung, Frau Hellberg?
»Alles!« sage Juliane und zog einen Blumenstrauß hervor. »Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit mitgebracht, weil Sie immer so nett zu meinen Kindern sind!«
»Aber, aber! Das war aber wirklich nicht nötig!« Doch man sah der altgedienten Nonne an, daß sie sich freute.
»Übrigens…«, meinte sie im Hinausgehen, »ist es nicht schwer, nett zu Ihren dreien zu sein! Sie sind prächtig! Hoffentlich bleiben sie so, Gott schütze sie!«
»Ja…«, sagte Juliane, die kleinen Welten der ewigen Mutterängste in sich fühlend. Ihre Kinder mögen ein gutes Leben haben, »ja Schwester, Gott schütze sie…«
»Ist es was Ernstes?« erkundigte sich Achim, und unter der Oberfläche seiner Stimme lag ein Fliegen. Juliane nahm die überspielte Sorge mit einem Aufseufzen wahr, fragte, um ein wenig Zeit zu gewinnen:
»Was soll ernst sein?«
»Die Neuigkeit…«, sagte Achim und blickte sie bohrend an, sah dann erleichtert aus, als er erkannte, daß Mamis Augen tief und dunkel in ihrem Haselnußbraun lächelten.
»Sie wird«, sagte Juliane und blickte alle drei der Reihe nach an, »unser Leben verändern.«
Die Mädchen standen mit geöffneten Mündern und unverhohlener Neugier schweigend da. Achim aber, sah Juliane mit Erstaunen, sah mit einem Male noch ein bißchen blasser aus als vorher.
»Kommt – kommt der Mann jetzt wieder zurück?«
Juliane legte ihre Hand gegen die schmale weiße Knabenwange.
»Welcher Mann?« fragte sie verständnislos, und Achim schluckte.
»Er meint den Vater«, erklärte Susan hilfsbereit und ohne jegliche Emotion.
Es versetzte Julianes Herz einen Stich, und sie mußte ganz behutsam, ganz tief durchatmen.
War alles umsonst? fragte etwas ganz tief innen in ihr, alles vergeblich? Das ganze Spiel von intakter, nur eben getrennter Familie?
Oder – Juliane mußte die Nasenflügel weiten, weil die Luft plötzlich so knapp war in dem Krankenzimmer und so stickig – oder war gar alles verkehrt gewesen?
»Na, sag schon!«
Es war Susan – wieder mit herabgelassener Brille – die die Situation rettete, die Luft im Zimmer wieder normal machte und damit auch ihren Bruder und ihre Mutter von ihrer kaum wahrgenommenen Verstörtheit befreite.
»Nein…«, erklärte Juliane, ordnungsliebend wie sie nun einmal war, erst Achims Frage beantwortend, »er kommt nicht zurück.«
Täuschte sie sich, oder sah sie Erleichterung in den Kindergesichtern? Mein Gott, was bildete sie sich denn nur ein!
»Was dann?« fragte Susann.
Juliane setzte sich in Positur, weil sie meinte, daß diese Situation Positur erforderte.
»Großmutter Barlach«, erklärte sie kurz und bündig, ohne Spannung und ohne Umschweife, »hat uns ihr Haus vermacht. Wir sollen sofort einziehen!«
Als erstes faßte Tanja, die Kleinste, sich und befeuchtete ihre Lippen. Dann fragte sie:
»Das Haus gehört jetzt uns?«
Juliane nickte, sah dann Susan an, die vor Aufregung – freudiger Aufregung, Juliane erkannte es sofort – ihre Brille abnehmen mußte.
Dann blickte sie auf Achim, und Rührung überlief ihre Haut, wie eine Gänsehaut. Achim sah geradezu verklärt aus und hatte Augen, Augen wie einer, dem sich ein Wunder offenbart hatte. Er hat Großmutter Barlachs Augen! stellte Juliane unterbewußt und mit großem Erstaunen fest. Es war ihr nie vorher aufgefallen.
»Das Haus?« fragte er leise, ohne daß sein Blick an Verklärtheit verlor und auch ohne daß er sich der männlichen Mühe unterzog, seine Riesenfreude darüber zu verbergen. Er liebte Großmutter Barlachs Haus, es war, wenn er manchmal träumte, das Ziel seiner Wünsche. Daß es eigentlich mehr der große Garten war, der das Wunschziel war, erkannte er noch nicht. Und es war auch nicht wichtig, es zu wissen.
»Das Haus!« bestätigte Juliane, und mit enger Kehle wußte sie plötzlich, daß kein Kind in einem Hochhaus aufwachsen dürfte! Keines! Aber – sie würde es nicht verhindern können. Vielleicht konnte das niemand.
Die Zeit.
Es war ja so leicht, immer und für alles ihr die Schuld zu geben, der Zeit, der