Sophienlust Extra 12 – Familienroman. Gert Rothberg
sie sagte: »Gritli hat ein Loch im Herzen.«
»Nein!« Denise neigte sich über den Tisch. In ihrem Gesicht arbeitete es. »Aber das ist doch lebensgefährlich«, murmelte sie und presste die Handflächen aneinander.
Anja Frey nickte. »Ja, das ist es. In der Klinik hat man sich sogar gewundert, dass Gritli bis jetzt durchgehalten hat. Merkwürdigerweise behauptet sie, nicht bei Ärzten gewesen zu sein. Aber ihre Mutter scheint von dem Schaden doch gewusst zu haben. Jedenfalls hat sie das Kind geschont und es immer wieder dazu angehalten, sich nicht zu übernehmen.«
Anja Frey stand auf und trat ans Fenster. Im Park unten tobten die Kinder. Gritli stand mit hängenden Schultern am Rand des Rasens und sah ihnen zu.
»Diese Ergebenheit ist mir zuerst aufgefallen, dieses traurige Gesicht, wenn die anderen Kinder spielten«, meinte die Ärztin. »Sie sagte auch jetzt, sie wolle nur zusehen. Andere Kinder wünschen sich, mitspielen zu können.«
Denise war neben die Ärztin getreten. »Ein so schwer krankes Kind hatten wir noch nie in Sophienlust«, sagte sie leise. »Ist es nicht schlimm genug, dass wir nicht wissen, wohin Gritli gehört?«
»Ja, man kommt in Versuchung, aufzubegehren.« Anja Frey strich sich über die Stirn.
»Und was raten Ihre Kollegen?«, fragte Denise von Schoenecker. »Gibt es eine Möglichkeit, zu helfen?«
»Eine einzige, Frau von Schoenecker.« Anja Frey ging zu ihrem Stuhl zurück und ließ sich darauffallen. »Eine Operation in der Mayo-Klinik.«
»In den USA?«, fragte Denise.
»Ja, in den USA, in Rochester. Nur in dieser Klinik hat man bisher mit Erfolg so schwere Operationen an Kindern durchgeführt. Sie werden sich daran erinnern. Man liest manchmal davon in den Zeitungen.«
»Ja. Und jedes Mal wird dann auch geschrieben, dass eine solche Operation und der wochenlange Aufenthalt in der Mayo-Klinik ein kleines Vermögen kosten.« Denise stand noch immer am Fenster. Ihr Blick hatte sich noch nicht von der kleinen Gritli gelöst. »Aber um ein Kind zu retten, dafür sollte einem kein Betrag zu hoch sein. Ich werde mit unserem Vermögensverwalter, Rechtsanwalt Dr. Brachmann, sprechen. Aus eigenem Ermessen kann ich eine so große Summe aus dem Erbe von Nicks Urgroßmutter nicht entnehmen.« Denise kam vom Fenster zurück. »Aber wir werden Gritli in die Mayo-Klinik bringen, wenn sie das retten kann.« Das sagte Denise mit sehr entschlossener Stimme. »Ich werde gleich heute Abend mit meinem Mann sprechen. Gibt es in der Mayo-Klinik eine Warteliste, Frau Doktor? Ich meine, sicher kann man nicht zu jeder x-beliebigen Zeit dorthin fahren.«
»Nein, das ist nicht möglich. Aber die Kollegen in Heidelberg wären bereit, mit den Ärzten der Mayo-Klinik Verbindung aufzunehmen. Ich konnte jedoch noch keine Zusage machen, weil ich nicht wusste, ob das Geld für die Operation aufgebracht werden kann.« Anja Frey sah noch immer bedrückt aus. »Leider sind mein Mann und ich nicht in der Situation, finanziell entscheidend helfen zu können. Wären wir dazu in der Lage, würden wir es tun. Wenn ich daran denke, dass das Leben unserer kleinen Felicitas davon abhängen könnte, dass man Geld aufbringt, weiß ich nicht, was ich alles unternehmen würde. Ich werde mich auch jetzt bemühen, Frau von Schoenecker, vielleicht einige Spenden zusammenzukriegen, damit nicht die ganze Belastung auf Ihnen allein liegt. Unser kleines Mädchen von nirgendwoher ist ja schon im weiten Umkreis bekannt. Oder besser – man kennt sein Schicksal und bedauert es sehr. Es sollte doch möglich sein, einige Leute mit Geld zu finden, die einmal ein gutes Werk tun wollen.«
Denise von Schoenecker war der jungen Ärztin dankbar, dass sie ihr zur Seite stehen wollte. Die beiden Frauen unterhielten sich noch geraume Zeit miteinander, bis Anja Frey etwas anderes einfiel. »Ich habe ganz vergessen zu sagen, dass Gritli auf jeden Fall einige Zeit warten muss, bis sie operiert werden kann. Man wollte sie in der Klinik behandeln, aber ich habe die Erlaubnis bekommen, das hier zu tun. Es geht nur darum, dass sich Gritli etwas stärkt, sie wäre in ihrem jetzigen Zustand zu schwach, um die stundenlange Operation durchstehen zu können. Ich habe mit meinen Kollegen die Therapie genau besprochen. Jetzt brauchen wir vor allem noch Schwester Regines Hilfe, damit der Plan genau eingehalten werden kann.«
»Mit Schwester Regine können wir immer rechnen, das wissen Sie, Frau Doktor. Ich glaube, jedes Mal, wenn sie ein krankes Kind pflegt, denkt sie an ihr eigenes Kind. Vielleicht nicht mehr in dem verzehrenden Schmerz wie früher, aber doch mit dem großen Wunsch, ein fremdes Kind zu retten, wenn sie schon ihrem eigenen Kind nicht helfen konnte. Ich werde sofort mit Schwester Regine sprechen. Ist es Ihnen recht, wenn sie heute Abend auf einen Sprung ins Doktorhaus kommt?«
»Ja, das ist mir sogar sehr recht. Ich freue mich jedes Mal, mit Schwester Regine ein Stündchen beisammen sein zu können.« Anja Frey verabschiedete sich.
Kurze Zeit später rief Denise von Schoenecker die großen Kinder ins Haus. Sie hatte sich vorgenommen, mit ihnen über Gritlis Krankheit zu sprechen. Sie sollten nun noch besser als zuvor auf das Kind aufpassen und es nicht zu Anstrengungen herausfordern.
Pünktchen, Angelika und Vicky waren die ältesten Kinder in Sophienlust, seitdem Malu und Isabel das Heim verlassen hatten.
Diese drei Mädchen saßen Denise von Schoenecker erwartungsvoll gegenüber. Was sollte das bedeuten, dass ihre Tante Isi sie aus heiterem Himmel hatte kommen lassen? So etwas passierte nicht oft. Die Mädchen wurden unruhig, als sie Denises abgespanntes, ernstes Gesicht sahen. Es konnte nicht ausbleiben, dass sie sich die Frage stellten, ob sie etwas angestellt hatten.
Denise beruhigte sie ein wenig. »Gleich, ich will nur noch auf Nick warten, sonst muss ich alles noch einmal wiederholen. Da ist er ja endlich.«
Der große schwarzhaarige Junge, der jetzt ins Zimmer gestürmt kam, sah sich erschrocken um. »Mutti, was ist passiert?«, fragte er.
Denise von Schoenecker lächelte ihren Sohn an. »Du tust natürlich gleich wieder, als müsste es irgendwo brennen, wenn ich nur mal ein paar Worte mit euch sprechen will. Setz dich schon hin, Nick.«
Der fünfzehnjährige Dominik von Wellentin-Schoenecker sah jetzt recht enttäuscht aus. »Nur sprechen …«, murmelte er vor sich hin. Dann sagte er laut: »Ich dachte, es gäbe endlich wieder einmal eine Sensation auf Sophienlust. Dass du uns nicht verprügeln willst, habe ich mir gleich gedacht.« Jetzt lachte er.
»Verprügeln? Wie kommst du denn darauf?« Denises Stimme klang ärgerlich. »Als ob es so etwas bei uns überhaupt gäbe.«
Nick lachte noch immer. »Aber es gibt kleine Kinder bei uns, die sich das wünschen. Für uns Große jedenfalls. Unser Liliputchen Heidi hat zu mir gesagt: ›Schnell, Nick, du sollst sofort zu deiner Mutti ins Zimmer kommen. Pünktchen, Angelika, Vicky und du, ihr habt etwas ganz Schlimmes angestellt und bekommt jetzt Haue dafür.‹ Ja, das hat Heidi durch den ganzen Park geschrien, Mutti.«
Nun brachen alle in Lachen aus, Denise sagte: »Nun, Heidi muss man das entschuldigen, sie rückt sich eben auch gern mal in den Mittelpunkt. Wenn man noch nicht einmal vier Jahre alt ist und sich den größeren Kindern immer etwas unterlegen fühlt, muss man eben auch mal auftrumpfen können. Sie wird sich darüber gefreut haben, dass du ihr scheinbar geglaubt hast. Aber jetzt wollen wir dieses Thema abschließen. Bitte, hört mir gut zu.«
Denise erzählte nun, mit welcher schlimmen Nachricht Anja Frey Gritli aus Heidelberg zurückgebracht hatte.
Übermut und Lachen waren von den Gesichtern der Mädchen verschwunden.
Nick aber starrte ununterbrochen auf einen Fleck.
»Ich musste euch einweihen, denn es wird vor allem auch auf euch ankommen, dass wir es schaffen, Gritli ein wenig zu kräftigen. Frau Dr. Frey wird sie behandeln. Mit Medikamenten. Unsere Magda wird sich gewiss alle Mühe geben, für Gritli das zu kochen, was unsere Ärztin empfiehlt. Schwester Regine und Frau Rennert werden genau darauf achten, dass alle Vorschriften eingehalten werden. Ihr aber müsst unauffällig dafür sorgen, dass Gritli vor der kleinsten Anstrengung bewahrt bleibt. Diese Aufgabe muss ich in eure Hände legen, weil wir Erwachsenen nicht immer dabei sind, wenn im Park gespielt wird.«
Pünktchen hatte noch immer ein erschrockenes Gesicht.