Dracula. Bram Stoker

Dracula - Bram Stoker


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Gottchen, wie könnt es auch anders sein? Gucken Sie sich den mal an, den letzten dort achtern, hinter dem Hubbel. Lesen Sie!« Ich ging hinüber und las: »Edward Spencelagh, Handelsschiffskapitän, ermordet von Piraten vor der Küste bei Andres, Nordfrankreich«.

      Nachdem ich mich wieder gesetzt hatte, fuhr Mr. Swales fort: »Wer soll’n den bitte hergebracht ham, möchte ich wissen, um ihn hier einzubuddeln? Ermordet bei Andres, Nordfrankreich. Und Sie glauben, sein Leib läg unter dem Stein da! Ach, ich könnt Ihnen noch’n Dutzend Männer nennen, von denen die Knochen oben in der See vor Grönland ruhn« – er zeigte nordwärts –, »oder wo die Strömung sie sonst hingetragen hat. Noch’n paar Beispiele. Nehmse gleich die Steine um Sie rum. Sie mit Ihren jungen Augen könn bestimmt von Ihrem Platz aus die Lügen drauf lesen, auch wenn die Schrift ziemlich klein ist. Da, Braithwaite Lowery – ich kannt seinen Vater –, Matrose der Lively, vermisst vor Grönland 1820; oder Andrew Woodhouse, in der gleichen Gegend ertrunken 1777; oder John Paxton, ertrunken bei Kap Farvel ein Jahr später; oder der alte John Rawlings – bin schon mit seinem Großvater gesegelt –, ertrunken im Finnischen Meerbusen 1850. Glaumse ehrlich, die würden alle nach Whitby stürmen am Tag, wo die Posaune dröhnt? Glaumse, das ging überhaupt? Ich hab da so meine Zweifel deswegen. Stellnse sich mal vor, die kämen alle her; das gäb ja ein Gedränge und Gerempel wie früher bei uns, wenn wir im Eis festsaßen und uns um die Vorräte kloppten, von morgens bis nachts, und nachher mussten wir zusehn, wie wir unsere Wunden im Schein des Nordlichts verarzteten.« Das war offenbar ein Lokalwitz, denn der alte Mann gickelte an der Stelle, und seine Kumpane lachten herzlich mit.

      »Aber«, warf ich ein, »so ganz kann ich Ihnen nicht folgen. Sie gehen von der merkwürdigen Annahme aus, dass all diese bedauernswerten Menschen – beziehungsweise deren Seelen – zum Jüngsten Gericht ihre Grabsteine mitbringen müssen. Warum sollte das wohl erforderlich sein?«

      »Tja, wofür stellt man denn sonst Grabsteine hin? Verraten Sie mir das, Miss!«

      »Den Angehörigen zuliebe, denk ich mal.«

      »Den Angehörigen zuliebe, denktse mal«, wiederholte er verächtlich. »Wern die sich aber freun über diese Liebesgabe, wo sie genauso gut wissen wie die ganze Stadt, dass alles gelogen ist, was drauf geschrieben steht!« Nun deutete er auf einen Stein zu unseren Füßen. Es war einer von der Art, die horizontal zu liegen pflegt, also eine Grabplatte. Man hatte sie in den Boden eingelassen, um dieser Bank dicht am Abgrund, die ich benutzte, besseren Halt zu geben. »Lesen Sie mal die Lügen auf dieser Tafel«, sagte Mr. Swales. Dazu saß ich ungünstig, für mich standen die Buchstaben auf dem Kopf; Lucy dagegen hatte fast genau gegenüber Platz genommen, also beugte sie sich vor und las: »›George Canon zum freundlichen Gedenken, der am 29. Juli 1873 den Tod fand, als er von den Felsen des Kettleness stürzte. Möge er der Auferstehung, die er erhoffte, teilhaftig werden. Errichtet von der trauernden Mutter, einer Witwe, für ihren einzigen Sohn‹. Ja und, Mr. Swales, die Pointe? Ich finde wirklich nichts besonders Komisches daran.« Ihre Bemerkung klang sehr ernsthaft, fast vorwurfsvoll.

      »Sie finden da nix Komisches dran! Haha, kein Wunder, Sie wissen ja nich, was das für eine gewesen ist, die ›trauernde Mutter‹. Ein regelrechter Weibsteufel. Die hat ihren Sohn gehasst, weil der’n Krüppel war, so’n amtlicher Hinkepatsch. Und er hasste sie zurück. Deshalb hat er auch Selbstmord begangen, der Georgie, er wollt nämlich verhindern, dass die Olle irgendwann die Lebensversicherung kassierte, die sie für ihn abgeschlossen hatte. Also, was macht er, der Georgie? Schnappt sich die alte Muskete, die sie sonst zum Krähenverscheuchen benutzen, setzt sich den Lauf an sein’ Kopp und drückt ab. Fast die komplette Schädeldecke fliegt ihm weg. Der Schuss gilt nich mehr den Krähen; die kommen jetzt zu ihm und scharenweise Fliegen obendrein. Zur Sicherheit hat er sich auch noch an einem Abgrund postiert. So war das mit dem ›Sturz von den Felsen‹. Und was die ›Hoffnung auf selige Auferstehung‹ betrifft – dem Georgie seine Hoffnungen gingen ganz woanders hin, hadder mir oft genug erklärt. Nach’m Tod, hadder gesagt, würd er am liebsten zur Hölle fahren, denn seine Mutter käm von wegen ihrer Frömmigkeit bestimmt innen Himmel, und wo die rumhinge, wollt er dann nich mehr sein. Man kann also doch wohl sagen: der Stein hier« – er klopfte mit seinem Stock darauf – »ist ’ne einzige Lüge, oder? Und meinense nich auch, der Gabriel wird ganz schön gickeln, wenn der Georgie am Jüngsten Tag sich hier aus’m grünen Rasen erhebt, sich seinen Grabstein auf’n Buckel packt und zum Gericht humpelt, um das Ding dort als Beweisstück zu präsentiern?«

      Mir fiel in dem Moment nichts Rechtes ein; Lucy dagegen gelang, dem Gespräch eine eigene Wendung zu geben, indem sie aufstand und sagte: »Och, warum haben Sie uns das alles erzählt? Das ist hier mein Lieblingsplatz, den wollte ich nie aufgeben. Und nun wird mich immer der Gedanke begleiten: Du sitzt auf dem Grab eines Selbstmörders.«

      »Muss Sie nich störn, Herzchen. Könnt mir sogar vorstelln, den armen Georgie freuts, wenn so’n schmuckes Mädel auf seim Schoß sitzt. Nee, nee, geniernse sich mal nich. Ich komm ja nu schon fast zwanzig Jahre und hock mich her, und noch nie ist mir was passiert. Hamse mal keine Manschetten wegen denen, die da unten liegen – beziehungsweise nich liegen. Wennse eines Tages die Grabsteine alle wegrennen sehn, und der Kirchanger ist plötzlich kahl wie’n Stoppelfeld – ja, dann könnse Bammel kriegen, aber nich vorher. Ah, die Uhr schlägt. Ich muss los. Empfehl mich, meine Damen!« Und damit humpelte er davon.

      Wir beide blieben noch eine Weile sitzen. Die Schönheit ringsum erfüllte uns derart, dass wir uns bei den Händen hielten. Lucy pflegte wieder ihre Lieblingsthemen: ihr Arthur und ihre kommende Hochzeit. Dies gab mir innerlich doch einen kleinen Stich, denn ich habe schon einen ganzen Monat nichts von Jonathan gehört.

      Am selben Tag. – Ich bin noch einmal allein herauf, denn mir ist sehr traurig zumute. Wieder kein Brief. Jonathan wird doch hoffentlich nichts zugestoßen sein? Eben hat es neun geschlagen. Ich sehe überall in der Stadt die Lichter angehen; viele bilden Ketten – dort, wo Straßen sind –, manche strahlen einzeln. Auch den Esk entlang verläuft eine Reihe und verliert sich dann hinter einer Biegung des Tales. Zu meiner Linken verstellt ein großes schwarzes Viereck den Blick: das Dach des Hauses neben der Abtei. Lämmer und Schafe blöken entfernt auf den Weiden hinter mir; unten trappeln Eselshufe über die gepflasterte Straße. Auf einem der Piers spielt eine Tanzkapelle reichlich schräg einen flotten Walzer, etwas abseits des Kais, in einer Nebenstraße, musiziert ein Trupp der Heilsarmee. Die Ensembles vernehmen nichts voneinander, ich hier oben jedoch höre und sehe sie beide. Wenn ich doch nur wüsste, wo Jonathan ist und ob er an mich denkt! Ich wollte, er wäre hier.

      Dr. Sewards Diarium

      5. Juni. – Der Casus Renfield wird immer interessanter. Je mehr Einblick ich in den Patienten gewinne, desto mehr fasziniert mich der Fall. Drei Charakterzüge sind bei ihm besonders stark ausgeprägt: Egoismus, Verschlossenheit und Zielstrebigkeit. Ich wünschte, ich könnte ergründen, wo die letztere hinwill. Offenbar verfährt er nach einem festen Plan, aber wie der aussieht, weiß ich nicht. Eine Eigenschaft lässt ihn sympathisch wirken: seine Liebe zu Tieren. Doch lebt er diese in einer Weise aus, dass ich manchmal glaube, er sei ganz im Gegenteil abnorm grausam. Schon seine zoologischen Präferenzen wirken seltsam. Derzeit fängt er leidenschaftlich gern Fliegen. Er hat inzwischen so viele beisammen, dass ich mich doch gehalten sah, Protest anzumelden. Erstaunlicherweise wurde er daraufhin nicht wütend, sondern nahm die Mahnung einfach ernst und ruhig hin. Er dachte kurz nach, dann bat er mich: »Geben Sie mir drei Tage? Bis dahin schaffe ich sie alle weg.« Natürlich gewährte ich ihm die Frist. Aber ich muss ihn im Auge behalten.

      18. Juni. – Nun hat er sich eine neue Spezies erkoren: Spinnen. Von diesen Krabbelgesellen besitzt er bereits mehrere Prachtexemplare, die er in einer Schachtel hält. Er füttert sie mit seinen Fliegen. Deren Zahl hat merklich abgenommen, obwohl er die Hälfte seiner Mahlzeiten dafür verwendet, neue in sein Zimmer zu locken.

      1. Juli. – Jetzt sind seine Spinnen bald eine ebenso schlimme Plage wie seine Fliegen. Daher habe ich ihm heute erklärt, dass er sich von ihnen werde trennen müssen. Er schaute nach dieser Anweisung so traurig drein, dass ich ihm sagte, fürs erste würde mir reichen, wenn wenigstens ein paar davon verschwänden. Dem Kompromiss stimmte er freudig zu, und ich räumte ihm die gleiche Zeit ein wie letztes Mal. Dann jedoch


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