Dracula. Bram Stoker
Hund partout nicht zu seinem Herrn kommen, der neben uns auf der Bank saß. Das Tier hielt sich störrisch in einiger Entfernung, jaulte und bellte. Sein Herr sprach ihm erst gütlich zu, dann wurde er grob und schließlich wütend. Der Hund jedoch blieb, wo er war, und lärmte weiter. Er wirkte wie von Raserei ergriffen; die Augen glühten wild, und alle Haare sträubten sich wie der Schwanz einer Mieze, die auf den Kriegspfad geht. Zuletzt ging der Zorn mit dem Mann durch. Er sprang auf, lief zu dem Hund hinab, versetzte ihm einen Fußtritt, fasste ihn beim Genick, zerrte ihn zu seinem Sitzplatz und schleuderte ihn auf die Grabplatte unterhalb der Bank. Kaum hatte das arme Wesen den Stein berührt, wurde es still, begann aber am ganzen Körper zu zittern. Es versuchte nicht mehr zu fliehen, sondern kauerte sich nieder, bebend und zusammengekrümmt, und befand sich in einem derart schlimmen Zustand panischer Angst, dass ich mein Bestes tat, es zu beruhigen – leider ohne Erfolg. Auch Lucy war voller Mitleid, aber sie mochte sich nicht entschließen, den Hund anzurühren, sondern starrte ihn nur gequält und verzweifelt an. Ich fürchte sehr, sie ist zu sensibel, um im Leben zurechtzukommen. Heute nacht wird sie garantiert von dem Vorfall träumen. Diese Häufung befremdlicher Begebenheiten während der letzten vier Tage – das Schiff, das ein Toter in den Hafen steuert, ein mit einer Rosenkranzkette samt Kruzifix ans Steuerrad gebundener Toter; die ergreifende Trauerfeier; der bald tobende und bald angsterfüllte Hund – da wird ihren Träumen das Material nicht so rasch ausgehen.
Für Lucy wäre es jetzt, meine ich, das Beste, wenn sie sich körperlich erschöpft, bevor sie zu Bett geht. Ich will deshalb mit ihr einen ausgedehnten Spaziergang unternehmen: die Klippen entlang zur Robin Hood’s Bay und wieder zurück. Anschließend dürfte sie kaum noch großen Drang zum Schlafwandeln verspüren.
Achtes Kapitel
Mina Murrays Tagebuch
Selber Tag, 11 Uhr abends. – Ach, was bin ich müde! Hätte ich mir nicht zur Pflicht gemacht, ein Tagebuch zu führen, würde ich es heute geschlossen lassen. Wir hatten einen herrlichen Spaziergang. Lucy war bald wieder bester Laune, was sich, genau bedacht, ausgerechnet einem eher bedrohlichen Ereignis verdankte. Auf einem Feld in der Nähe des Leuchtturms schoben sich uns plötzlich ein paar friedfertige Rinder entgegen, und zwar so nahe, dass wir es doch gewaltig mit der Angst zu tun bekamen. In diesem Moment vergaßen wir wohl alles, außer natürlich unserer Furcht. Dieser kurze Schreck machte in uns gleichsam Tabula rasa und ermöglichte einen neuen Anfang. Wir hielten eine recht ausgiebige ›erweiterte Teevesper‹ in einem netten kleinen, altmodischen Wirtshaus nahe der Robin Hood’s Bay. Durch das Erkerfenster sah man auf die tangüberwucherten Felsen des Strandes. Mit unserem Appetit hätten wir, glaube ich, die ›Neuen Frauen‹ ordentlich schockiert, denen zufolge der weibliche Körper ja unbedingt sportlich und drahtig sein soll. Männer sind hier toleranter, Gott sei Dank. Dann gingen wir heim, wobei wir freilich einige oder, besser gesagt, recht viele Ruhepausen einlegten, und das trotz unserer beständigen Furcht vor wilden Stieren. Lucy war wirklich müde, und wir wollten eigentlich so bald wie möglich ins Bett kriechen. Doch da kam der junge Vikar; er wollte eigentlich nur kurz bleiben, aber Mrs. Westenra lud ihn zum Abendessen ein. Lucy und ich mussten schwer mit dem Sandmann kämpfen; für mich jedenfalls war es ein hartes Gefecht, und ich schlage mich gewöhnlich gegen diesen Gegner ganz wacker. Die Bischöfe sollten sich meiner Meinung nach einmal zusammensetzen und einen neuen Typus von Vikar ins Leben rufen, der sich nie zum Abendessen einladen lässt, wie sehr man ihn auch drängt, und der merkt, wenn junge Mädchen müde sind. Lucy schläft jetzt und atmet leise. Ihre Wangen haben mehr Farbe als sonst. Süß ist sie, einfach süß. Mr. Holmwood hat sich ja schon in sie verliebt, als er sie im Salon erblickte; was würde er da erst empfinden, wenn er sie jetzt betrachten könnte. Vielleicht werden ein paar der Schriftstellerinnen, die das Idealbild der ›Neuen Frau‹ geprägt haben, irgendwann die Forderung erheben, die Ehepartner in spe müssten zunächst einmal schauen dürfen, wie der jeweils andere im Schlaf aussieht; erst dann solle ›er‹ entscheiden, ob er einen Heiratsantrag macht, und ›sie‹, ob sie diesen annimmt. Aber ich schätze, die ›Neuen Frauen‹ werden künftig gar nicht mehr huldvoll warten wollen, bis eine Offerte kommt, sondern selbst die Initiative ergreifen. Und dabei werden sie sich schön anstellen! Ein kleiner Trost. Ich bin heute richtig froh, denn alles spricht dafür, dass es der guten Lucy besser geht. Sie ist über den Berg, ganz sicher, und die Zeit, da ständig Albträume sie peinigten, haben wir gemeinsam überwunden. Noch froher wäre ich freilich, wenn ich wüsste, ob Jonathan … Gott segne und behüte ihn!
11. August, 3 Uhr nachts. – Wieder Tagebuch. Finde ohnehin keine Ruhe, da schreibe ich eben. Kann nicht schlafen; viel zu aufgeregt. Wir haben ein schlimmes Abenteuer, ein grauenvolles Erlebnis hinter uns … Gestern abend schlief ich ein, kaum dass ich meine Tagebuchnotizen beendet hatte. Doch plötzlich wurde ich hellwach, erfüllt von fürchterlicher Angst und dem dumpfen Gefühl einer Leere um mich herum. Kein Licht brannte, so dass ich Lucys Bett nicht sah. Ich schlich hinüber und tastete nach ihr. Das Bett war leer. Ich entzündete ein Streichholz und erkannte, dass sie sich gar nicht im Zimmer befand. Die Tür war eingeklinkt, aber nicht verschlossen; dabei hatte ich sie ein paar Stunden zuvor persönlich zugesperrt. Ihre Mutter wollte ich nicht wecken, der es gesundheitlich wieder schlechter geht. Also warf ich mir rasch etwas über und machte mich auf die Suche nach Lucy. Ich wollte gerade den Raum verlassen, da schoss mir durch den Kopf, einen Blick in die Garderobe zu werfen und zu schauen, welche Sachen fehlten. Aus dem, was sie angezogen hatte, konnte man vielleicht erschließen, wo der Traumimpuls sie herumwandern ließ. Morgenmantel hieße: drinnen; Straßenkleid hieße: draußen. Aber Morgenmantel wie Straßenkleid waren an ihren Plätzen. »Gott sei Dank«, sagte ich mir, »sie ist bestimmt nicht weit; sie hat ja nur ihr Nachthemd an.« Ich lief hinunter und blickte ins Wohnzimmer. Keine Lucy! Dann sah ich in allen offenen Räumen des Gebäudes nach; eine wachsende Furcht schloss sich kalt um mein Herz. Endlich kam ich zur Haustür und fand sie offen – sie lehnte zwar gegen den Rahmen, aber der Schnapper hatte nicht eingerastet. Die Hausbewohner sperren jeden Abend sorgfältig zu; also musste ich befürchten, dass Lucy bloß im Nachthemd unterwegs war. Mir blieb keine Zeit, mir auszumalen, was jetzt alles passieren konnte; eine unbestimmte Angst überwältigte meine Phantasie und hielt sie davon ab, zu sehr ins Detail zu gehen. Ich ergriff einen großen, dicken Schal und stürzte los. Als ich am Crescent stand, schlug die Uhr eins; kein Mensch auf der Straße. Ich rannte die Nordterrasse entlang, entdeckte aber nirgends eine Spur der weißen Gestalt, nach der ich Ausschau hielt. Am Rand der West Cliff oberhalb des Piers blieb ich stehen und spähte quer über den Hafen zur East Cliff hin, in der Hoffnung oder der Befürchtung – was von beiden stärker war, weiß ich nicht mehr –, dass dort Lucy auf unserer Lieblinksbank säße. Es schien ein heller Vollmond, aber schwere schwarze Wolken trieben am Firmament, die ihn immer wieder verdeckten und abwechselnd Licht und Schatten über die Szenerie huschen ließen. Ein bis zwei Sekunden konnte ich nichts erkennen, da gerade ein solcher Wolkenschatten die St. Mary’s Church samt Umgebung verdunkelte. Als aber die Wolke weiterzog, glitt ein Streifen Mondlicht, schmal und scharfkantig wie eine Schwertklinge über den Hang, und alles kam nach und nach wieder in Sicht, zuerst die zerfallene Abtei, dann die Kirche und der Friedhof. Welcher Gemütszustand meine Erwartungen auch begleitet haben mag – diese selbst wurden nicht enttäuscht, denn eben beleuchtete der Silberstrahl des Mondes unsere Lieblingsbank, und auf der saß, halb zurückgelehnt, eine schneeweiße Gestalt. Gar zu bald kam die nächste Wolke und brachte neue Finsternis; viel konnte man da wirklich nicht beobachten. Aber immerhin, während der kurzen Spannen der Helligkeit meinte ich zu sehen, dass hinter der Bank etwas Dunkles stünde, das sich über die weiße Gestalt beugte. Was es war, ein Mensch oder ein Tier, ließ sich nicht ausmachen. Die Gelegenheit für einen zweiten Blick mochte ich gar nicht mehr abwarten. Ich sauste die steilen Treppen zum Pier hinab und stürzte weiter am Fischmarkt vorbei zur Brücke, denn nur über sie kommt man von der Westseite des Hafens zur East Cliff. Die Stadt lag da wie tot, keine Menschenseele weit und breit. Mir war das ganz recht, denn einstweilen sollte niemand vom Zustand der armen Lucy erfahren. Die Zeit und die Entfernung erschienen mir endlos; meine Knie zitterten, und mein Atem wurde ein einziges Keuchen, während ich mich die unzähligen Stufen zur Abtei hochquälte. Ich muss sehr rasch gelaufen sein, und doch hatte ich das Gefühl, es hingen Bleigewichte an meinen Füßen und sämtliche Gelenke meines Körpers wären eingerostet. Als ich fast oben war, sah ich wieder die Bank und die