Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden. Selma Lagerlöf
sie jeden Tag, solange der Sommer dauert, in großen Scharen dorthin ziehen. Schwieriger lässt sich wohl sagen, warum er für die Tiere so anziehend ist, dass sie sich Jahr für Jahr dort zu einem großen Spiel versammeln. Dies ist jedoch seit uralten Zeiten Brauch.
Um von den Menschen unbemerkt zu bleiben, machen sich die Rothirsche, die Rehe, die Hasen, die Füchse und die übrigen wilden Vierbeiner schon in der Nacht vor der Zusammenkunft zum Kullaberg auf. Unmittelbar vor Sonnenaufgang ziehen sie alle auf den Spielplatz, eine Heidefläche links vom Wege, nicht sehr weit vom äußersten Vorsprung des Berges entfernt. Da der Platz ringsum von runden Felskuppen umgeben wird, sieht man ihn erst, wenn man ihn erreicht hat. Und im Monat März ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich irgendein Wanderer hierher verirrt.
Wenn die Vierbeiner auf dem Spielplatz angelangt sind, lassen sie sich auf den runden Felskuppen nieder. Jede Tierart bleibt für sich, obwohl alle wissen, dass an einem Tag wie diesem allgemeiner Friede herrscht und niemand einen Überfall zu fürchten braucht. An diesem Tag sollte ein kleines Häschen über den Hügel der Füchse wandern können, ohne auch nur einen seiner langen Löffel einzubüßen.
Schließlich haben alle ihre Plätze eingenommen und halten nun Ausschau nach den Vögeln. An diesem Tag ist immer schönes Wetter. Die Kraniche sind gute Wetterpropheten und würden die Tiere nicht zusammenrufen, wenn Regen angesagt wäre. Doch obwohl die Luft klar ist und nichts die Sicht behindert, können die Vierbeiner keine Vögel entdecken. Das ist sonderbar. Die Sonne steht hoch am Himmel, und die Vögel müssten längst unterwegs sein.
Die Tiere auf dem Kullaberg bemerken jedoch hier und da eine kleine dunkle Wolke, die langsam über die Ebene schwebt. Sieh da, eine dieser dunklen Wolken fliegt plötzlich zur Küste des Öresunds und nimmt Kurs auf den Kullaberg. Als sie mitten über dem Spielplatz ist, hält sie inne, und auf einmal beginnt die ganze Wolke zu klingen und zu singen, als bestünde sie aus lauter Tönen. Sie schwebt auf und nieder, auf und nieder und singt und klingt die ganze Zeit. Schließlich lässt sich die ganze Wolke auf einen Hügel fallen, und der ist im nächsten Augenblick über und über mit grauen Lerchen, prächtigen rot-grau-weißen Buchfinken, gesprenkelten Staren und grün-gelben Meisen bedeckt.
Gleich darauf zieht eine zweite Wolke über die Ebene heran. Sie verweilt über jedem Hof, über Landarbeiterkaten und Schlössern, über kleinen und größeren Städten, über Bauernhöfen und Bahnstationen, über Fischerdörfern und Zuckerfabriken, und jedesmal saugt sie eine dünne, wirbelnde Säule aus grauen Staubkörnchen zu sich empor. Auf solche Art wird sie größer und größer, und wenn sie endlich vollständig ist und Kurs auf den Kullaberg nimmt, ist sie keine Wolke mehr, sondern ein ganzes Gewölk, so groß, dass es einen Schatten von Höganäs bis Mölle wirft. Wenn dieses Gewölk über dem Spielplatz schwebt, wird die Sonne verdunkelt, und lange muss es auf einen der Hügel Sperlinge regnen, bis jene, die im Inneren des Gewölks geflogen waren, wieder einen Schimmer vom Tageslicht erblicken.
Jetzt aber nähert sich die größte dieser Vogelwolken. Die Schwärme, aus denen sie besteht, sind aus allen Richtungen gekommen, um sich ihr anzuschließen. Sie ist von tief graublauer Farbe, und kein Sonnenstrahl dringt durch sie hindurch. Wenn sie sich düster und furchterregend wie eine Unwetterwolke nähert, hört man den schrecklichsten Lärm, das grässlichste Geschrei, das höhnischste Gelächter und das unheilvollste Gekrächze. Alle auf dem Spielplatz sind froh, wenn sie sich endlich in einen Regen von flatternden, krächzenden Vögeln auflöst, in Krähen und Dohlen und Raben und Saatkrähen.
Was dann am Himmel erscheint, das sind nicht nur Wolken, sondern vielerlei Striche und Zeichen, und im Osten und Nordosten zeigen sich gerade, gestrichelte Linien. Es sind Waldvögel aus der Gegend von Göinge: Birkhühner und Auerhühner, die in langen Reihen, mit einigen Metern Abstand voneinander, geflogen kommen. Die Schwimmvögel, die auf der kleinen Insel Måkläppen vor Falsterbo zu Hause sind, schweben in vielen sonderbaren Formationen über den Öresund und bilden Dreiecke und langgezogene Winkel, schiefe Haken und Halbkreise.
In jenem Jahr, als Nils Holgersson mit den Wildgänsen durchs Land reiste, kam Akka mit ihrer Schar später als alle anderen zum großen Treffen auf dem Kullaberg. Das war kein Wunder, denn sie hatte auf ihrem Weg ganz Schonen überfliegen müssen. Außerdem musste sie gleich nach dem Erwachen erst den Däumling suchen, der viele Stunden seine Pfeife geblasen und die grauen Ratten weit weg von Glimmingehus gelockt hatte.
Auf der ganzen Reise rasteten sie nur ein einziges Mal, und zwar auf dem Vombsee, wo sich Akka mit ihren Reisekameraden vereinte und ihnen zurief, die grauen Ratten seien nun besiegt. Danach flogen sie geradenwegs zum Kullaberg.
Dort ließen sie sich auf jenem Hügel nieder, der den Wildgänsen vorbehalten war. Als der Junge nun seinen Blick von einem Hügel zum anderen wandern ließ, sah er, dass sich über dem einen die vielzackigen Geweihe der Rothirsche und über einem anderen die Nackenbüschel der Fischreiher erhoben. Ein Hügel war rot von Füchsen, einer schwarz und weiß von Meeresvögeln, einer grau von Ratten. Einer war mit schwarzen Raben besetzt, die unaufhörlich krächzten, ein anderer mit Lerchen, die auch nicht den Schnabel halten konnten, sondern unablässig aufstiegen und vor Freude sangen.
Wie es immer auf dem Kullaberg Brauch gewesen ist, durften die Krähen die Spiele und Späße des Tages mit ihrem Flugtanz eröffnen. Sie hatten sich in zwei Gruppen eingeteilt, die nun aufeinander zuflogen, sich begegneten, umkehrten und wieder aufeinander zuflogen. Dieser Tanz hatte viele Runden und nahm sich für die Zuschauer, die sich in seinen Regeln nicht auskannten, allzu einförmig aus. Während die Krähen auf ihren Tanz sehr stolz waren, freuten sich alle anderen, als sie damit aufhörten. Er war den Tieren ebenso düster und sinnlos wie das Spiel des Wintersturms mit den Schneeflocken erschienen und hatte sie traurig gestimmt. Nun warteten sie sehnsüchtig auf einen Auftritt, der sie ein wenig aufheitern könnte.
Sie brauchten auch nicht lange zu warten, denn sowie die Krähen verschwunden waren, kamen die Hasen gehoppelt. Sie strömten in einem langen Zug ohne besondere Ordnung herbei, manchmal einer allein, dann wieder drei oder vier nebeneinander. Alle hatten sich auf die Hinterläufe erhoben, und sie liefen so schnell, dass ihre langen Löffel in alle Richtungen flatterten. Dabei drehten sie Pirouetten und vollführten hohe Sprünge. Einige schlugen eine ganze Reihe von Purzelbäumen, andere krümmten sich zusammen und rollten wie Räder, einer wirbelte auf einem Bein herum, ein anderer ging auf den Vorderläufen. Das Spiel der Hasen war zwar ohne jede Ordnung, jedoch so lustig, dass die vielen Tiere, die ihnen zusahen, jetzt schneller atmeten. Der Frühling war da, es sollte Lust und Freude geben. Der Winter war vorbei, der Sommer nahte. Bald war das Leben nur noch ein Spiel.
Als sich die Hasen ausgetobt hatten, begannen die großen Waldvögel ihren Auftritt. Hundert Auerhähne mit hellroten Augenbrauen und glänzend schwarzbraunen Gewändern warfen sich auf eine große Eiche, die mitten auf dem Spielplatz stand. Der auf dem höchsten Zweig plusterte die Federn, ließ die Flügel sinken und streckte den Schwanz in die Höhe, so dass die weißen Deckfedern sichtbar wurden. Dann reckte er den Hals vor, und aus seiner verdickten Kehle kamen ein paar tiefe Töne, die wie »tjäck, tjäck, tjäck« klangen. Mehr brachte er nicht heraus, es gluckste nur ein paarmal tief in seiner Kehle. Dann schloss er die Augen und flüsterte: »Sis, sis, sis. Hört, wie schön! Sis, sis, sis.« Dabei geriet er in eine solche Verzückung, dass er nicht mehr wahrnahm, was um ihn herum geschah.
Während der erste Auerhahn noch sein »sis, sis« machte, stimmten die drei, die ihm am nächsten saßen, ihr Lied an. Bevor sie zu Ende gesungen hatten, begannen jene zehn, die unter ihnen saßen, und so ging es weiter von Zweig zu Zweig, bis sämtliche hundert Auerhähne sangen und glucksten und sis-sis-ten. Alle gerieten dabei in dieselbe Verzückung, und gerade das wirkte auf die anderen Tiere wie ein ansteckender Rausch. Eben noch war ihr Blut lustig und leicht geströmt, jetzt wurde es schwer und heiß. »Ja, es ist wirklich Frühling«, dachten die zahlreichen Tiervölker. »Die Kälte des Winters ist vorbei. Das Feuer des Frühlings brennt auf der Erde.«
Als die Birkhühner merkten, welchen Erfolg die Auerhähne hatten, konnten sie nicht länger ruhig bleiben. Es gab aber keinen Baum auf dem Spielplatz, auf dem sie Platz nehmen konnten, deshalb stürmten sie dorthin, wo das Heidekraut so hoch stand, dass nur ihre schön geschwungenen Schwanzfedern und ihre dicken Schnäbel zu sehen waren, und sangen: »Orr, orr, orr.«