Wyatt Earp 219 – Western. William Mark D.
Zu ihrem Pech hatte jetzt eine ganze Wolkenmauer den Mond verdüstert. Das Licht, das über den Rand der Wolken fiel, leuchtete nicht mehr hier in das kleine Hochplateau zwischen dem Felsgestein, auf dem die Stadt stand.
»Auch das noch«, meinte der Spieler.
»Wir sollten froh sein, dass es dunkler wird«, entgegnete der Marshal. »Im Mondlicht können sie uns bis auf sechzig, siebzig Yards und weiter sehen.«
»Das schon«, entgegnete Holliday. »Aber wir kennen hier keinen Fußbreit Boden. Und da würde ich es doch begrüßen, wenn der Mond nicht so geizig mit seiner Laterne wäre.«
Sie hatten sich den ersten Häusern jetzt bis auf fünfzig Schritt genähert.
Rechts die beiden ersten Häuser waren klein und wirkten im düsteren Mondschein unansehnlich und ausgestorben.
Die nächsten Häuser waren größer und sahen etwas besser aus. Aber über allem schien irgendwie ein silbergrauer Schein zu schweben.
Da gaben die Wolken den Mond wieder frei und geisterten als gespenstische Schatten über die Straße, tanzten über die Vorbaudächer und glitten über die Hausgiebel dahin.
Die beiden hatten einen einen Vorbau betreten.
»Wirklich, eine behagliche Stadt«, hörte der Marshal den Spieler fast lautlos hinter sich sagen. »Ich meine, hierhin sollte ich mich pensionieren lassen.«
Sie hatten die beiden ersten Häuser hinter sich und standen vorm Hoftor des nächsten Hauses.
Wyatt öffnete es etwas und blickte in den Hof hinein, der gerade noch im gleißenden Mondlicht gelegen hatte, aber von einer Wolkenbank jetzt in ägyptische Finsternis getaucht wurde.
Ärgerlich ließ der Missourier den Torflügel los und betrat die nächsten Vorbauten.
Das sechste Haus auf der rechten Seite war eine Schenke.
Innen auf der Scheibe stand in riesigen Lettern zu lesen:
SALOON ZUM EWIGEN LEBEN.
Wyatt blickte sich um und sah in das Gesicht des Spielers.
»Na, was habe ich gesagt?«, flüsterte Holliday.
Da kam plötzlich Wind auf und trieb den Staub mit einem singenden Geräusch über die Vorbauten und an den hölzernen Häusergiebeln entlang.
Die beiden hatten sich in die Torecken gepresst, bis es vorüber war. Dann gingen sie weiter.
Wyatt hatte den nächsten Vorbau betreten und griff nach einem der Dachpfeiler.
Sofort aber ließ er ihn los. Denn über ihm war ein ächzendes Geräusch entstanden.
Als er jetzt den Pfeiler noch einmal leise berührte, bemerkte er, dass der Pfosten ganz morsch, jedenfalls aber stark verwittert war.
Er machte Doc Holliday flüsternd darauf aufmerksam.
»Hier ist alles morsch«, zischte der Spieler leise.
Sie hatten die Schenke hinter sich und gingen an den nächsten Häusern entlang.
Als sie das östliche Ende der Stadt erreicht hatten, wechselten sie über die Straße hinüber und gingen auf den Vorbauten der anderen Seite zurück.
Vor einem der letzten Häuser blieben sie stehen.
Wyatt trat bis an den Rand des Vorbaus, wo er noch im tiefen Schatten stand, und blickte kopfschüttelnd die Straße hinunter.
»Gefällt Ihnen unser schönes ›Nest zum ewigen Leben‹ etwa nicht?«, hörte er da Hollidays spöttelnde Stimme hinter sich.
»Nein«, entgegnete der Marshal. »Irgend etwas an dieser Stadt gefällt mir nicht.«
»Aber ich bitte Sie«, entgegnete der Spieler, »sie ist die bestgelegene Stadt, die ich bis jetzt gesehen habe. So etwas von einem Schutzwall haben ja nicht einmal die alten Apachen oben an ihren Pueblos.«
»Das ist es nicht«, versetzte der Missourier, »aber schließen Sie einmal die Augen, öffnen Sie den Mund und lauschen Sie mit angehaltenem Atem.«
»Das habe ich mehrmals getan – als Sie es nämlich auch taten.«
»Und – ist Ihnen nichts aufgefallen?«
»Nein, nicht das Geringste.«
Wieder nickte der Marshal. »Eben, das ist es. Diese Stille Diese unheimliche Stille. Haben Sie jemals eine so stille Stadt gesehen, Doc?«
Der Spieler zog die Schultern hoch.
Da wandte sich der Missourier um, ging auf die nächste Tür zu und griff nach dem Knopf.
Die Tür war unverschlossen.
Wyatt betrat den Hausgang und blieb lauschend stehen.
Da sich auch Doc Holliday hinter ihm nicht rührte, konnte ihm kein Geräusch entgehen.
Wyatt ging weiter bis an die nächste Tür, öffnete sie und blickte in eine Stube, in der ein Tisch und zwei Hocker standen. Auch ein alter Schrank war da. Er ging auf den Tisch zu, und in diesem Augenblick fiel draußen auf der Straße wieder das silberne Licht des Mondes herein und goss sich über die Vorbauten und Zügelholme. Es drang auch durch die Scheiben in diesen Raum.
Wyatt trat an den Tisch und glaubte, eine graue Decke läge darauf. Dann aber trat er heran und fuhr mit der Kuppe des Mittelfingers darüber.
Ein düsterer schwarzer Strich zog sich über die Stelle, die er eben berührt hatte.
Eine Staubschicht von einem halben Inch lag auf diesem Tisch.
Wyatt ging auf den nächsten Hocker zu, machte da die gleiche Probe, ebenso auf dem Schrank und an der Fensterbank. Auch die Fußbodendielen waren inchhoch mit pulverfeinem Flugstaub bedeckt.
Wyatt blickte sich nach dem Spieler um. Der stand neben der halboffenen Tür und sah zu ihm hinüber.
»Was sagen Sie jetzt, Doc?«
»Dass Sie recht hatten. Es stimmt etwas nicht mit der Stadt.«
Wyatt öffnete die nächste Tür, fand zwei leere Bettstellen, sah dann hinein in einen leeren Küchenraum, öffnete die Tür zum Hof, wo ihm ebenfalls eine gespenstische Leere entgegengähnte.
Nun überquerte der Marshal die Straße, öffnete drüben die Tür eines anderen Hauses. Auch hier das gleiche Bild. Gähnende Leere, Staub überall.
So war es im nächsten und im übernächsten Haus.
Sie gingen von Haus zu Haus.
Am Schluss öffnete der Missourier die Tür zur Schenke.
Sie war unverriegelt wie all die anderen Türen, und es gab hier sogar noch einige Tische und Stühle; auch die Theke war noch da und die Wandschränke, auf denen sonst die Flaschen standen. Alles leer. Und alles bedeckt mit fingerdickem Staub.
Über der Theke hing ein blinder Spiegel. Daneben eine Uhr, die auf der fünften Stunde irgendwann an einem Tag oder in einer düsteren Nacht stehengeblieben sein musste.
Da ganze große Haus war leer. Ebenso die Schuppen und Stallräume.
Eine tote Stadt – oben auf dem Hochplateau der Peloncillo-Mountains, versteckt in einem ganzen Wall von Stein, der das winzige Plateau, auf dem die Stadt lag, umgab und auf der weiten Hochebene selbst nur wie ein steinerner Klotz wirkte. Niemand, der vorüberritt, würde vielleicht vermuten, dass es hier einen Daumeneindruck gab, in dessen Mitte eine ganze Stadt lag.
Wo hatte sie ihren Ausgang und ihren Eingang? Irgendwo musste es in dem Gestein einen Weg geben, denn unmöglich war der Pfad, auf dem der Marshal mit dem Gefährten hierhergekommen war, der einzige Zugang zur Stadt. Selbst wenn es den Menschen, die hier gelebt hatten, im Sinn gelegen hatte, unbedingt einsam und von der ganzen Welt abgeschlossen zu leben, so wäre es ihnen doch unmöglich gewesen, hier durch diese Felsschlucht all das Holz zu schleppen, das für den Bau der Stadt