Sophienlust Extra 13 – Familienroman. Gert Rothberg
sie so beunruhigten. Er war sehr geschickt, wenn es darum ging, seine Pläne durchzusetzen. So ließ er da eine Bemerkung fallen, die keinem besonders auffiel, und brachte dort eine kleine Geschichte an, über die geschmunzelt wurde. Aber immer hatten seine Gespräche etwas mit Elisabeth zu tun. Er tat, als müsste er das Geheimnis noch wahren und verspreche sich nur gelegentlich, wenn er sich selbst mit Elisabeth in Zusammenhang brachte.
Klaus Rauscher wusste, als erstes musste er Jost Balthoff ausschalten. Elisabeth durfte niemanden haben, bei dem sie sich Hilfe holen konnte. Sie musste allein auf ihn, Klaus Rauscher, angewiesen sein. Er musste für sie unentbehrlich sein, aber gleichzeitig ihre Liebe zu Jost zerstören. Dass er bei dieser Intrige in Josts Mutter eine gute Komplizin haben würde, wusste er. Also sorgte er dafür, dass sie alles zu hören bekam, was sie gegen Elisabeth noch mehr erbosen konnte.
*
Die Kinder von Sophienlust hatten sich sehr über die Ankunft von Marietta Winkler gefreut. Aber von Tag zu Tag merkten sie stärker, dass hier kein Mädchen nach Sophienlust gekommen war, das spielen und lustig sein wollte.
Marietta stand allen Annäherungsversuchen der Kinder skeptisch gegenüber. Sie hatte es auch nicht gern, wenn sich jemand für ihr Eichhörnchen interessierte. Gerade Tuck aber war doch für die Kinder von Sophienlust eine Sensation. Eichhörnchen konnten sie oft im Park beobachten. Sie kamen manchmal sogar bis auf die Fensterbretter, um sich eine Nuss zu holen, schwangen sich aber meistens gleich wieder auf einen Ast zurück. Auch das Freigehege im Tierheim »Waldi & Co.« wurde oft von Eichhörnchen besucht, aber noch nie hatte sich eines fangen lassen. Deshalb bestaunten die Kinder Mariettas Tuck. Sie wollten, dass er sich auch ihnen gegenüber zutraulich zeigte. Sicher hätte Tuck selbst nichts dagegen gehabt, aber Marietta wusste das zu verhindern. Sie benahm sich so, als müsste sie diesen kostbaren Schatz ganz besonders hüten.
Henrik von Schoenecker, der sich schnell ärgerte, wenn jemand nicht das tat, was er wollte, sagte deshalb auch mit dem Trotz seiner sieben Jahre: »Soll sich Marietta doch ihr Eichhörnchen auf den Hut stecken oder in einen Schrank einschließen.«
Wenn Marietta so etwas hörte, entgegnete sie kein Wort. Ihre großen blauen Augen sahen dann nur wieder sehr traurig drein. Meistens verzog sich der kleine forsche Henrik dann schnell, denn er schien Mariettas traurigen Blick auch nicht ertragen zu können.
So ging es vielen Kindern. Sie wussten mit Marietta nichts anzufangen. Es wäre ihnen lieber gewesen, wenn sie sich herausfordernd benommen hätte. Im Streit ließ sich schließlich auch manches schlichten.
Wurde Marietta gefragt, ob es ihr in Sophienlust gefalle, dann sagte sie brav: »Ja.« Und doch hatten alle das Gefühl, dass sie nicht gern hier sei. Die einen entrüstete das, die anderen fühlten Mitleid mit Marietta. Besonders die Erwachsenen. Sie bemühten sich täglich von neuem um dieses Kind. Unaufdringlich, aber mit viel Liebe.
Marietta hatte sich wie die anderen Kinder angewöhnt, zu Denise von Schoenecker »Tante Isi« zu sagen, aber sie sprach auch diesen Kosenamen gleichgültig aus.
Da es in Sophienlust nur Zimmer mit zwei Betten gab, hatte auch Marietta eine Zimmergenossin. Es war die kleine Karin. Zwar hielten sich die Kinder meistens nur zum Schlafen in ihren Zimmern auf, denn tagsüber waren sie in den schönen Aufenthaltsräumen des Kinderheims, aber auch zu Karin fand Marietta keinen Kontakt. Während die anderen Kinder am Abend in den Betten noch lange miteinander sprachen, schwieg Marietta fast immer. Dabei wusste Karin genau, dass Marietta dann noch nicht schlief. Meistens starrte sie mit offenen Augen zur Decke, oder sie legte die Hand auf den Beutel, in dem Tuck vor ihrem Bett schlief. Wurde das Eichhörnchen unruhig, dann sprach sie ihm gut zu. Manchmal turnte es auch noch im Zimmer umher. Dann entschuldigte sich Marietta bei Karin so, wie es Erwachsene zu tun pflegten.
Nein, Marietta schien einfach nicht mehr Kind sein zu können.
Auch Dr. Anja Frey, die Ärztin der Sophienluster Kinder, nahm sich Mariettas an. Sie holte sie zu ihrem Töchterchen Felicitas. Aber auch diesem lebhaften Mädchen gelang es nicht, Marietta aus ihrer Reserve herauszulocken. Anja Frey war überzeugt, dass Marietta bei dem plötzlichen Tod der Eltern einen zu großen Schock bekommen hatte. Zu Denise von Schoenecker sagte die Ärztin: »So schlimm das klingt, aber wir müssten Marietta wünschen, dass sie neues Leid erfährt. Irgendeinen großen Schrecken, der sie aus dieser Erstarrung löst. So bin ich zum Beispiel davon überzeugt, dass sie ihre Schwester Elisabeth sehr liebt, aber Marietta merkt das nicht. Würde sie plötzlich erfahren, dass Elisabeth etwas geschehen sei …« Anja Frey schüttelte den Kopf. »Aber wer kann sich so etwas wünschen?«
Auch Denise von Schoenecker war ratlos. Wie oft hatte sie schon mit der Heimleiterin, Frau Rennert, und mit Schwester Regine überlegt, wie sie Marietta helfen könnten, aber sie waren keinen Schritt weitergekommen. Trotz der Erfahrung, die sie alle im Umgang mit seelisch kranken Kindern hatten.
Die großen Mädchen – Vicky, Angelika und Pünktchen – bemühten sich jeden Tag von neuem um Marietta. Besonders Pünktchen konnte Mariettas trauriges Gesicht kaum noch ertragen. Zu gut wusste sie, wie Marietta zumute sein mochte, denn auch sie war einmal ein so verstörtes Kind gewesen. Damals, als Dominik, der Sohn Denise von Schoeneckers, sie nach Sophienlust gebracht hatte. Er hatte sie umherirrend gefunden, nachdem ihre Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen waren. So gut sich Pünktchen in all den vielen Jahren in Sophienlust eingelebt hatte, die Schatten jener tragischen Zeit erreichten sie trotzdem noch oft. Besonders dann, wenn wieder einmal ein vom Schicksal so schwer geschlagenes Kind nach Sophienlust kam. Deshalb hörte Pünktchen auch nicht auf, sich um Marietta zu bemühen. Oft schmiedete sie zusammen mit Dominik Pläne, wie sie Marietta helfen könnten.
So saßen die beiden auch an diesem Tag am Rand des Springbrunnens im Park und hielten großen Rat. Keiner störte sie. Zum einen wussten die anderen Kinder, worüber Nick und Pünktchen sprachen, zum anderen waren die Kinder daran gewöhnt, dass die beiden Großen oft beisammensteckten.
»Vielleicht sollte deine Mutti Marietta für einige Tage zu Andrea geben, Nick«, schlug Pünktchen jetzt vor.
Dominik sah das Mädchen verwundert an. »Was versprichst du dir denn davon, Pünktchen?«
»Ich denke immer, hier sind zu viele Kinder für Marietta. Sie findet doch keinen Kontakt zu uns, aber sie liebt Tiere. Diese scheinen in ihren Augen bessere Freunde zu sein. Das siehst du doch an ihrer Liebe zu Tuck. Bei Andrea könnte sich Marietta mit allen Tieren von ›Waldi & Co.‹ anfreunden. Das wäre vielleicht ein Weg, sie endlich einmal etwas aus ihrer Reserve herauszulocken. Was hältst du davon, Nick?«
Der Junge sprang vom Rand des Springbrunnens. »Ich kann ja mit Mutti und mit Andrea mal sprechen. Willst du mitkommen?«
»Selbstverständlich.«
Pünktchen stand auch bereits auf dem Boden. Aber jetzt horchte sie auf. »Was ist denn das für ein Geschrei? Da muss etwas passiert sein.«
»Marietta kommt angerannt.« Auch Nick war erschrocken.
Pünktchen lief dem laut weinenden Kind entgegen. Sie sah es zum ersten Mal in dieser Verfassung. In den vierzehn Tagen, die Marietta nun schon in Sophienlust war, hatte sie noch nicht einmal geweint. »Marietta, was ist denn?« Pünktchen fing das Mädchen auf.
»Mein Tuck … mein Tuck …«, stieß Marietta hervor.
»Was ist mit deinem Tuck, Marietta? So sprich doch! Sollen wir dir helfen?« Pünktchen kämpfte selbst schon mit den Tränen. Auch wenn sie noch gar nicht wusste, warum sich Marietta so aufregte.
»Ja, ihr müsst … Tuck suchen … Er ist fort.« Marietta zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die hohen Baumwipfel. »Dort oben … Er kommt nicht mehr zurück.«
Nick und Pünktchen sahen einander ratlos an. Was sollten sie tun? Wenn Tuck nicht auf Mariettas Rufen zurückkam, konnte ihn auch ein anderer nicht zur Rückkehr bewegen.
»Tuck wird nur einen kleinen Ausflug gemacht haben, Marietta«, versuchte Pünktchen das Kind zu trösten. »Komm, zeige uns den Baum, auf den er entwischt ist. Wenn du dich darunterstellst, wirst du sehen, dass Tuck wieder zu dir zurückkommt. Etwas anderes gibt es doch gar nicht.«