Die leisen Weltveränderer. Debora Sommer
können mit der umgebenden Kultur, der konkreten Situation, der Rolle, dem Lebensalter und sogar der Stimmung zu tun haben.«27
Die Tatsache, dass jeder Mensch an einem anderen Punkt auf einer Skala zwischen extrem introvertiert und extrem extrovertiert anzusiedeln ist, trifft auch auf die Leser dieses Buches zu. Selbst Introvertierte unterscheiden sich in der Ausprägung ihrer Introversion so stark, dass die Beispiele in diesem Buch längst nicht immer auf alle Intros zutreffen.
4. Intros, Extros und Zentros. Während nur wenige Menschen an den extremen Enden der Skala angesiedelt sind, liegen die meisten im Mittelfeld. Mit den Ambi- oder Zentrovertierten, kurz Zentros genannt, hat sich neben den Intro- und Extrovertierten ganz offiziell eine dritte Gruppe etabliert.28 Löhken schreibt: »Wenn Intros und Extros ›der Norden und der Süden des Temperaments‹ sind, dann sind die Zentros der Äquator.«29 In der Sprache der Psychologen werden Zentros oft auch »Ambivertierte« genannt. »Ambivertiert« (abgeleitet von englisch ambivert) bedeutet »nach beiden Seiten gewandt«. Zentros tragen demnach Eigenschaften beider Pole in sich und fühlen sich je nach Situation eher der einen oder der anderen Gruppe zugehörig.30 Je besser sich Intros, Extros und Zentros gegenseitig kennen, umso rücksichtsvoller können sie mit sich selbst und anderen umgehen. Die Gesellschaft ganz allgemein sowie die christliche Gemeinschaft im Besonderen braucht die Eigenschaften aller Persönlichkeitstypen!
5. Introversion ist wissenschaftlich nachweisbar. Die Wissenschaft hat seit den 1990er-Jahren große Fortschritte gemacht. Dabei ist insbesondere die Hirnphysiologie für die Intro-Extro-Thematik von Interesse. Löhken erklärt: »Verschiedenste Studien belegen in verschiedenen Bereichen des zentralen Nervensystems, dass das Intro-Extro-Kontinuum nicht nur eine psychologische Annahme, sondern auch eine biologische Realität ist.«31 Anders gesagt: Unsere Persönlichkeit und unser Handeln entsprechen physiologischen Gegebenheiten im Hirn. Konkret unterscheiden sich die Gehirne von Introvertierten und Extrovertierten einerseits darin, wie die Gehirne organisiert sind, und andererseits, auf welche Weise die Gehirne aktiv sind. So sind Unterschiede zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen zum Beispiel neurologisch messbar.32 Das Gehirn von introvertierten Probanden wies in Untersuchungen eine höhere elektrische Aktivität auf. Und zwar unabhängig davon, ob sie sich bei der Arbeit oder in einem Ruhezustand befanden. Aufgrund dieser (von Natur aus) höheren Gehirnaktivität haben leise Menschen offenbar ein stärkeres Bedürfnis, sich gegen Reizüberflutung abzuschirmen. Um sich wohlzufühlen und neue Kraft zu schöpfen, brauchen Introvertierte Ruhe. Bei Extrovertierten ist es genau umgekehrt: Um einen optimalen neuronalen Erregungszustand zu erreichen, brauchen sie Anregungen von außen, zum Beispiel Musik, Gespräche oder Bewegung.
Dies bestätigte auch ein Experiment an Studenten der University of Minnesota: Introvertierte lernten am besten in ruhiger Umgebung (maximal 65 Dezibel), während sich Extrovertierte besser konzentrieren konnten, wenn es lauter war (um die 85 Dezibel). »Andere Forschungsarbeiten weisen darauf hin«, erklärt Sophia Dembling, »dass das Gehirn Extrovertierter große Mengen des Neurotransmitters Dopamin (sehr vereinfacht gesagt, ist das die Substanz, die dazu beiträgt, im Gehirn die Belohnungs- und Vergnügungszentren zu kontrollieren) verlangt, die sie sich verschaffen, indem sie ausgehen und etwas unternehmen«33. Dopamin ist der Neurotransmitter der Aktivität, Motorik, Aufmerksamkeit, Konzentration, Motivation und des Antriebs. Die Tatsache, dass das Dopamin keinen weiten Weg bis zu seinem Ziel im Gehirn zurückzulegen muss, ermöglicht es den Extrovertierten, Daten schnell zu verarbeiten und unter Druck zu handeln und zu sprechen. Im Gegensatz hierzu wird das Gehirn eines Introvertierten angespannt, wenn es von Dopamin überflutet wird. Es fühlt sich sehr viel wohler, wenn es vom Neurotransmitter Acetylcholin versorgt wird. Dieser Botenstoff veranlasst Introvertierte dazu, in sich zu gehen, um zur Ruhe zu kommen und Sicherheit und Beständigkeit zu finden. Acetylcholin ist darüber hinaus auch entscheidend an kognitiven Prozessen wie Lernvorgängen und Gedächtnisbildung beteiligt. Acetylcholin muss zwischen Start und Ziel zudem einen weiten Weg zurücklegen. Vielleicht neigen Introvertierte deshalb dazu, langsamer zu agieren und zu reagieren als Extrovertierte.
6. Introversion ist eine Frage der Energiequelle. Der Hauptunterschied zwischen Extrovertierten und Introvertierten bezieht sich auf die Quelle, aus der die Menschen ihre Energie schöpfen. Extrovertierte erhalten Antrieb und Energie durch andere Menschen und durch Dinge, die außerhalb von ihnen liegen, denn sie fühlen sich einsam, wenn sie nicht mit anderen in Kontakt stehen. Introvertierte hingegen schöpfen ihre Energie aus dem Alleinsein: Sie benötigen eine geistige und räumliche Privatsphäre, da sie ihre Energie von innen heraus beziehen. Sie gehen daher lieber Einzelbeschäftigungen nach, lesen viel, stöbern im Internet und mögen es still und ruhig. »Genau hier liegt der Unterschied zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen«, schreibt Martin Wehrle. Weiter erklärt er: »Die Introvertierten sind wie Quellen: Die Energie sprudelt aus ihnen heraus, sie kommt von innen und erneuert sich, wenn sie allein sind oder unter Vertrauten. […] Anders die Extrovertierten: Sie halten die Stille kaum aus. Wenn sie umringt von Menschen sind, neue Eindrücke sammeln und mit Höchsttempo durchs Leben fahren, dann strotzen sie vor Lebendigkeit. Sie gleichen Regentonnen: Die Energie kommt von außen. Ihr Speicher füllt sich nur, wenn es um sie herum ordentlich prasselt und quasselt, wenn (neue) Reize auf sie einhageln. Bleibt der Regen aus, verdunstet die Energie.«34
7. Introversion darf nicht mit Schüchternheit verwechselt werden. Es überrascht mich immer wieder, dass »introvertiert« im allgemeinen Sprachgebrauch sehr oft mit »schüchtern« und »ruhig« gleichgesetzt wird. Schüchterne Menschen haben in der Regel Angst, sich vor ihren Mitmenschen zu blamieren oder zu scheitern, und ziehen sich aus diesem Grund zurück. Introvertierte Menschen dagegen ertragen soziale Kontakte einfach eher in kleineren Dosen, weil zu viele Reize von außen die Innenwelt überfordern würden. Während Introversion eine genetische Veranlagung ist, kann man Schüchternheit durch gezielte Maßnahmen überwinden.
Wer weiß? Vielleicht sind auch Sie introvertierter, als Sie vermutet hätten. Oder jemand, der Ihnen nahesteht und dessen Verhalten Sie bis jetzt nicht einordnen konnten, ist es. Es gibt verschiedene Tests, die verfügbar sind – in Introversionsbüchern oder auch online –, die Aufschluss über die entsprechende Veranlagung geben. Für besonders empfehlenswert halte ich den Onlinetest von Sylvia Löhken: www.intros-extros.com/online-test (Stand: 15. 07. 2017). Nehmen Sie sich doch einen Moment Zeit, den Test auszufüllen. Es könnte ein wichtiger Schritt sein auf der Entdeckungsreise zu Ihrem Selbst!
Introversion und Hochsensibilität
Hochsensibilität hat sich in den vergangenen Jahren zum Trendthema entwickelt.35 Dies gilt auch für den christlichen Kontext.36 Und offen gestanden: Ich bin dankbar dafür! Eine Fülle von Literatur hat mir dabei geholfen, mich besser zu verstehen und eine positivere Haltung gegenüber meiner hochsensiblen Art zu entwickeln. Heute halte ich sogar selber Referate und Schulungen zu diesem Themenbereich. Meiner Meinung nach ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Hochsensibilität äußerst wichtig und relevant – auch für Christen und christliche Gemeinden. Denn es fällt auf, dass in christlichen Gemeinschaften besonders viele hochsensible und hochsensitive Menschen zu finden sind.37
Doch wieso erwähne ich das überhaupt? In diesem Buch geht es ja um Introversion und nicht um Hochsensibilität. Der Grund dafür ist ganz einfach: Ich habe wiederholt festgestellt, dass ebendiese Begrifflichkeiten zu einiger Verwirrung führen. Daher ist es mir wichtig, einführend zu klären, inwiefern Introversion und Hochsensibilität zusammenhängen und wie sie voneinander abzugrenzen sind.
Hochsensibilitäts- und Introversionsspezialisten stimmen darin überein, dass auffallend viele hochsensible Menschen auch introvertiert sind und umgekehrt. Dies liegt in der Natur der Veranlagung. Wenn Sie also introvertiert sind, könnte es durchaus sein, dass Sie auch hochsensibel sind. Es muss aber nicht sein! Vielleicht gehören Sie auch zu den extrovertierten Hochsensiblen. (Und falls Sie zu den extrovertierten Hochsensiblen gehören, sollten Sie sich nicht darüber wundern, wenn etliche Beschreibungen von Introvertierten in diesem Buch auch auf Sie zutreffen!)