Ein gutes Verbrechen. Magdalena Jagelke

Ein gutes Verbrechen - Magdalena Jagelke


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ist hier. Stopp, bitte!«

      Ohne Danke zu sagen, stieg ich aus dem Wagen.

      Mutter schickte mir eine Aufstellung der Kosten, die anfielen, bis ich volljährig sein würde, unterschrieben mit Viel Glück, Liebes. Der Umschlag trug keinen Absender. Sie überwies die Miete und ein monatliches Budget zum Leben.

      Aus der Ferne sorgte sie für mich. Trotzdem spürte ich das Band zwischen uns ganz nah. Es flatterte in der Luft und zwischen den Bäumen in der Welt.

      Kurz nach ihrem Verschwinden betrat ich Mutters Zimmer. Als wäre sie gestorben, um es zu lüften, Staub setzte dort schon überall an.

      Ich entsorgte ihre Kleider, brachte die Tüten zur Altkleidersammlung, bevor der Stoff verblich, bevor die Motten alles fraßen.

      Dinge, die keinen Wert mehr hatten. Ich verkaufte Mutters Schmuck und bereute es nicht.

      Jeder Quadratmeter der Wohnung war nun kostbar. Den Platz brauchte ich für mich und meine Gedanken. Ich musste alles neu ordnen, auch Mutters Platz in meinem Kopf.

      Manchmal hasste ich es, allein zu sein. Dann pinkelte ich auf das Geld, das Mutter mir schickte, ließ es auf der Heizung trocknen, ging ins Einkaufszentrum und zahlte damit das Brot.

      Geld stinkt. Und die Erde dreht sich weiter. Sie bleibt auch dann nicht stehen, wenn Mütter verschwinden oder Revolutionäre Mühlen in Brand setzen.

      Im Winter taut Schnee, aber sehr langsam. Betrachte ich ihn, wird es warm um mein Herz. Manchmal weiß ich nicht, wohin mit meinem Herzen. Wohin mit den Empfindungen, die mich übermannen.

      Damals gesellte ich mich zu den Jungen, die abends vor dem Block standen, schaute zu, wie sie ihre Hunde aufeinanderhetzten. Sie ließen sogar Hühner gegen die Hunde antreten. Die Hunde rissen die Hühner auseinander. Das Blut der Hühner schimmerte im Halbdunkel in dem von einer Glühbirne beleuchteten Raum im Keller. Der Duft, den das Blut verströmte, drang über das Fenster hoch.

      Je weiter oben man wohnt, desto schwächer die Gerüche. In den oberen Stockwerken ist man dem Himmel näher. Gott näher, den der Gestank der Welt nichts angeht. Gott hat seinen Himmel, den Menschen überlässt er die Wälder.

      Man kann in den Wald gehen und die Luft dort einatmen, aber man darf kein Holz sammeln. Wohnungen sind mit Heizkörpern ausgestattet, ihnen fehlen Kamine. Ich fürchte mich vor der Firma, die die Heizkosten kassiert.

      Es vergingen Werktage, Wochen, Jahre. In den Straßenecken häufte sich der Müll. Am Wochenende machte ich Windowshopping, ging ins Kino oder ins Theater.

      Die Menschheit bleibt ein Ordner voller Adressen. Wild geht es nur noch im menschenleeren Raum zu, auf unentdeckten Planeten, wo Leben in den Tiefen schlummert. Während man vor sich hin sinniert, geht die Sonne unter, die Dunkelheit streckt ihre Klauen aus. Die Geister kriechen aus ihren Löchern.

      Ich verriegele die Tür und stelle das Weinglas ab, chatte unter einem Nickname mit Leuten in der ganzen Welt. Alle beschäftigen sich mit denselben Fragen. Alle drehen sich im Kreis. Alle schwimmen mit dem Strom.

      Dagegen, dass ich auf Formularen eine Nummer bin, protestiere ich nicht. Ich beschwere mich noch nicht einmal darüber, dass hier im Vorort die Hunde bellen. Ich schließe das Fenster nicht, benutze keine Ohrstöpsel.

      Der Vorort, in dem ich wohne, liegt in einem Länderdreieck in Westeuropa. Dass er trotzdem nicht der Nabel der Welt ist, weiß ich, seit ich in Gent eine Scheibe Brot probiert habe. Das Brot war so lecker, dass ich mich dafür schämte, mein Roggenbrot jahrelang beim selben Bäcker gekauft zu haben.

      Als ich einmal von einer Ausstellung erfuhr, rief ich Vater an, in seiner Kaserne in der Nähe Russlands, ich sagte Napoleon in den Hörer. Vater beantragte Urlaub. Vor Napoleons Portraits salutierte er nicht nur innerlich. Ein anderes Mal rief ich Vater an und fragte ihn nach seiner Meinung zu all den Dingen, die mir oft den Feierabend verdarben. Dass es in meinem Herz so leer war wie im Postkasten, wie das sein konnte, was es bedeutete. Ich fragte ihn um Rat.

      »Denk nach, Mädchen. Willst du lieber einen Brief­kasten voller Briefbomben haben?«, fragte Vater.

      Ja, flüsterte es in mir.

      Es war schon immer besser, Vater nach dem Mund zu reden. Er wird schnell wütend, und das ist nicht gut für ihn. Er leidet unter hohem Blutdruck und soll sich nicht aufregen. Außerdem lohnte sich Ärger mit Vater nicht, damals wie heute. Er war meine Option, falls es alles nicht geklappt hätte. Dann wäre ich in die Kaserne ausgewandert, hätte bei den Militärs gelebt bis zu meinem Lebensende. Dass ich zu ihm ziehen sollte, schlug Vater vor, als er von Mutters Verschwinden erfuhr.

      Ich hatte es ihm erst gesagt, als die Trauer verflogen und das erste Geld angekommen war.

      Seltsam, wie Vater mir immer wieder Trost spendet, ohne dass er mich tröstet, allein dadurch, dass er Soldat ist. Ich stehe vor dem Spiegel und sage zu dem Spiegelbild:

      »Du Soldatentochter.«

      Ich stelle mir vor, dass Generäle unten stehen und meinen Briefkasten bewachen, die Geschosse abfangen.

      Soldaten vor den Briefkästen, nicht nur vor meinem, das wäre wahrer Schutz, eine Revolution.

      Die Zeit bis zum Abitur brachte ich lernend und sparend zu. Schließlich rechnete ich das Geld durch. Es würde für das Studium reichen – und für ein Auto. Den Führerschein hatte ich mit siebzehn schon in der Tasche.

      Mit achtzehn kaufte ich einen gebrauchten Volvo.

      Der Volvo kostete nur sechstausend, er war silberfarben und hatte abgewetzte Stoffsitze. Ich hielt dem Autohändler das Geld hin, er dankte mit einem Lächeln.

      »Viel Spaß damit.«

      Ich grinste zurück.

      »Danke.«

      Ich befestigte den Autoschlüssel an meinem Schlüsselbund und stieg ein.

      Vorschriftsgemäß fuhr ich in Richtung Vorort. Zunächst mit fünfzig Kilometer pro Stunde, dann mit dreißig im Vorort, als ich auf den Parkplatz hinter dem Block zufuhr. Ich wunderte mich, dass nichts frei war, drehte mehrere Runden. Dann fand ich doch eine Lücke, in der Straße am Einkaufszentrum. Ich manövrierte den Volvo zwischen die beiden Wagen, die dort standen, stieg aus und schaute nach. Es war sehr eng. Trotzdem schloss ich die Türen ab, ließ ihn einfach so dort stehen.

      Ich ging nach Hause, setzte mich vor den Fernseher und konnte nicht aufhören, an den Volvo zu denken. Mir war unwohl bei dem Gedanken, Verantwortung zu tragen, wenn auch nur für ein Blechkonstrukt mit dem Logo Volvo darauf. Ich war wie meine Rabenmutter, ich war eine Blechrabenmutter, eine, die vergisst, dem Baby Benzin zu geben.

      Am nächsten Morgen wachte ich auf, und er fiel mir sofort wieder ein. Der Volvo. Ich sprang aus dem Bett.

      Er stand noch dort, wo ich ihn geparkt hatte. Die anderen Autos waren fast alle weg, es musste ein Werktag gewesen sein. Doch an der Windschutzscheibe steckte ein Zettel, der Hinweis, mein Parkverhalten würde angezeigt.

      Ich stieg ein. Weg, dachte ich nur. Das Kind in den Brunnen schmeißen.

      Lästige Babys verschwinden hinter Klappen, aufsässige Hunde gibt man in einem Heim ab. Meinen Volvo bin ich auf einem Schrottplatz losgeworden. Unter Wert, so eilig hatte ich es, die Last von mir abzuschütteln.

      Dann stieg ich in den Bus, fragte mich, wen anrufen, ich hatte das Bedürfnis, über das Volvo-Problem zu reden. Es fiel mir niemand ein. Ich erzählte es dem Busfahrer. Er sagte, ich sei nicht die Erste, die falsch geparkt habe.

      Kein bisschen getröstet stieg ich aus dem Bus, es dämmerte bereits, ich drehte noch ein paar Runden zu Fuß, denn ich hatte keine Lust, in die Wohnung zu gehen. Ich hockte auf der Treppe, bis der Mond zu glitzern begann. Ich wartete auf die Jungen mit den Kampfhunden an den Leinen, doch sie ließen sich nicht blicken, und von da an nahm mein Problem überhand.

      Irgendwie schaffte ich es trotz allem, mich am nächsten Morgen aufzuraffen. Ich hing in der Küche vor


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