Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk

Gesang der Fledermäuse - Olga Tokarczuk


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vernünftigen Vornamen aussuchen. Was in den Papieren steht, halte ich für skandalös unpassend und kompromittierend – Janina. Ich glaube, dass ich in Wirklichkeit Emilia heiße oder Joanna. Manchmal glaube ich auch, irgendwie so ähnlich wie Irmtrud. Oder Bożygniewa. Oder Nawoja.

      Matoga hingegen vermeidet es, wo er nur kann, mich beim Vornamen zu nennen. Das bedeutet sicher etwas. Irgendwie schafft er es immer, mich unmittelbar mit »du« anzureden.

      »Wartest du mit mir, bis sie kommen?«, fragte er.

      »Na klar.« Gerne war ich dazu bereit, und mir fiel auf, dass ich mich gescheut hätte, ihn noch extra mit seinem Namen »Matoga« anzusprechen. Wenn man so dicht beieinander wohnt, braucht man keine Namen zu nennen, um sich direkt aneinander zu wenden. Wenn ich bei ihm vorbeigehe und sehe, dass er Unkraut jätet, brauche ich seinen Namen nicht, um ihn anzusprechen. Es ist ein besonderer Grad der Vertrautheit.

      Unsere Siedlung besteht aus wenigen Häusern, die auf einem Hochplateau stehen, weit ab vom Rest der Welt. Ein Hochplateau ist geologisch gesehen ein entfernter Verwandter des Tafelbergs, so etwas wie dessen Vorbote. Vor dem Krieg nannte sich unsere Kolonie »Luftzug«, heute, im Polnischen, ist – nicht ganz offiziell – »Lufcug« daraus geworden, und offiziell gibt es gar keinen Namen. Auf der Karte sieht man bloß den Weg und einige Häuser, keine Buchstaben. Hier weht immer Wind, enorme Luftmassen strömen durch die Berge von Westen nach Osten, von Tschechien zu uns. Im Winter pfeift der Wind gewaltig, er heult in den Kaminen. Und im Sommer streicht er raschelnd durch die Blätter. Still ist es hier nie. Viele Leute können es sich leisten, ein Haus in der Stadt zu haben, als offizielles, als Ganzjahreshaus, und ein zweites – ein irgendwie verspieltes, ein Kinderhaus – auf dem Land. So sehen die Häuser denn auch aus, kindlich. Klein, geduckt, mit steilen Dächern und winzigen Fenstern. Alle sind vor dem Krieg auf die gleiche Art gebaut worden: mit langen ost- und westseitigen Mauern, eine kurze Mauer Richtung Süden und eine zweite, kurze nordseitige Mauer, an der eine Scheune lehnt. Nur das Haus der Schriftstellerin, mit seinen überall angebauten Terrassen und Balkonen, ist etwas exzentrischer.

      Man darf sich nicht über die Leute wundern, die im Winter das Hochplateau verlassen. Von Oktober bis April ist es hart, hier zu wohnen, davon kann ich ein Lied singen. Jedes Jahr fällt hier der große Schnee, und der Wind meißelt mit Akkuratesse seine Verwehungen und Dünen in den Schnee hinein. Die letzten klimatischen Veränderungen haben alles erwärmt, bis auf unser Hochplateau. Hier ist es gerade umgekehrt, im Februar schneit es noch einmal besonders stark, und der Schnee bleibt besonders lange liegen. Die Temperaturen sinken im Winter mehrere Male bis auf minus zwanzig Grad, und bis Ende April ist hier Winter. Der Weg ist schlecht, Frost und Schnee zerstören das, was die Gemeinde mit ihren kümmerlichen Mitteln immer wieder zu reparieren versucht. Bis zum Asphaltweg muss man vier Kilometer auf einem tief zerfurchten Feldweg fahren, und eigentlich gibt es nichts, wofür man sich das antun würde – der Autobus hinunter nach Kudowa fährt morgens ab und kehrt nachmittags zurück. Im Sommer, wenn die wenigen, bleichen Kinder hier Ferien haben, fährt gar kein Bus. Durch die Gegend führt eine Straße, die sich an einem Punkt wie eine Wünschelrute verzweigt und dann unbemerkt in den Vorort des Städtchens verwandelt. Sollte jemand Lust dazu bekommen, so kann er auf dieser Straße weiter nach Wrocław oder Tschechien fahren.

      Aber es gibt auch Menschen, denen das gefällt. Man könnte viele Hypothesen darüber aufstellen, so man Spaß an hypothetischen Ansätzen hat. Psychologie und Soziologie könnten hier auf manche Spur lenken, aber mich lässt so was vollkommen kalt.

      Matoga und ich zum Beispiel, wir bieten dem Winter tapfer die Stirn. Übrigens ist die Wendung »die Stirn bieten« ziemlich blödsinnig, denn wir schieben kämpferisch den Unterkiefer vor, wie die Männer auf der kleinen Brücke im Dorf. Wenn man die provoziert oder anpöbelt, dann sagen sie angriffslustig: »Na, und? Na, und?« In gewissem Sinne provozieren wir auch den Winter, aber der ignoriert uns ebenso wie den Rest der Welt. Die alten Exzentriker. Hippies von Gottes Gnaden.

      Alles hier ist so schön in weiße Winterwatte gekuschelt. Der Winter kürzt die Tage maximal, sodass man, wenn man unbesonnen etwas zu lang in die Nacht hinein zusammensitzt, erst im Dämmer des nächsten Nachmittags erwacht. Was mir, zugegebenermaßen, seit letztem Jahr immer wieder passiert. Der Himmel hängt hier über uns, tief und dunkel, wie ein schmutziger Bildschirm, auf dem sich übermütige Wolken-Kissenschlachten abspielen. Dafür sind unsere Häuser da – um uns vor diesem Himmel zu schützen, der ohne die Häuser unsere Körper bis ins Innerste durchdringen würde, bis in unsere Seele, die einer kleinen Murmel gleicht. Wenn es so etwas wie die Seele überhaupt gibt.

      Ich weiß nicht, was Matoga in diesen dunklen Monaten macht. Wir haben wenig Kontakt zueinander, auch wenn ich – zugegeben – gerne mehr hätte. Wir sehen uns alle paar Tage und wechseln ein paar Worte. Aber wir sind nicht deshalb hierhergezogen, um miteinander Tee zu trinken. Matoga hat sein Haus ein Jahr nach mir gekauft, und es sieht so aus, als hätte er beschlossen, ein neues Leben zu beginnen, wie jeder, dem die Ideen und die Mittel für das alte Leben ausgegangen sind. Angeblich hat er früher im Zirkus gearbeitet, aber ich weiß nicht, ob er dort Buchhalter oder Akrobat war. Lieber wäre mir Akrobat, denn wenn ich ihn humpeln sehe, dann stelle ich mir immer vor, dass vor langer Zeit, in den schönen siebziger Jahren, während einer ganz besonderen Nummer etwas geschehen sein könnte, was bewirkte, dass seine Hand das Trapezholz nicht erreichte, und er von weit oben in die mit Sägespänen bestreute Manege fiel. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr will mir scheinen, dass der Beruf des Buchhalters auch kein schlechter Beruf ist, und die den Buchhaltern eigene Ordnungsliebe weckt meine Bewunderung, Zustimmung und meinen ausnehmenden Respekt. Matogas Ordnungsliebe erkennt man auf seinem kleinen Anwesen auf einen Blick: Das Brennholz schichtet er in kunstvollen, spiralförmigen Klaftern übereinander. Daraus entsteht dann ein hübscher runder, ideal proportionierter Hügel. Matogas Holzklafter könnte man als ein lokales Kunstwerk auffassen. Dem Reiz dieser schönen, spiraligen Ordnung kann ich mich nicht entziehen. Immer wenn ich dort vorbeigehe, bleibe ich einen Moment stehen und bewundere diese beispielhafte Zusammenarbeit von Hand und Kopf, die mit etwas so Banalem wie Brennholz die vollkommenste Bewegung im Universum ausführt.

      Der Pfad vor Matogas Haus ist so gleichmäßig mit Kies bestreut, dass man glauben könnte, es sei ein besonderer Kies, aus identischen Steinchen, von Hand ausgesucht, in unterirdischen Felsenhöhlen oder in von Kobolden geführten Kiesfabriken. Vor seinen Fenstern hängen saubere Gardinen, gleichmäßig gefältelt, sicher verwendet er für diesen Effekt eine spezielle Vorrichtung. Seine Blumen im Garten stehen fein säuberlich und ordentlich da, gerade aufgerichtet und schlank, als hätten sie ein Fitnesstraining absolviert.

      Als Matoga in der Küche hantierte und uns Tee machte, fiel mir auf, wie akkurat die Tassen in seinem Geschirrschrank standen, was für ein makelloses Deckchen auf der Nähmaschine lag. Er hatte sogar eine Nähmaschine! Beschämt hielt ich meine Hände zwischen die Knie gepresst. Meinen Händen hatte ich lange Zeit kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Also, es ließ sich nicht verbergen, dass meine Fingernägel ganz einfach schmutzig waren.

      Als er die Teelöffelchen holte, sah ich kurz das Innere der Schublade, und ich konnte meinen Blick nicht davon abwenden. Sie war breit und flach wie ein Tablett. In den mittleren Fächern lagen sorgfältig nebeneinander das Besteck und daneben die anderen Küchenutensilien. Jeder der mir größtenteils unbekannten Gegenstände hatte seinen eigenen Platz. Matogas knochige Finger wählten bedächtig zwei Löffel aus und legten sie auf die zartgrünen Servietten neben unseren Teegläsern. Leider zu spät, denn ich hatte meinen Tee bereits ausgetrunken.

      Es war nicht leicht, mit Matoga ein Gespräch in Gang zu halten. Er war sehr wortkarg. Wenn man nicht sprechen kann, muss man schweigen. Mit manchen Personen sind Gespräche fast unmöglich, besonders mit männlichen. Ich habe eine Theorie zu dem Thema. Viele Männer erkranken mit fortschreitendem Alter an Testosteron-Autismus, was mit einem langsamen Schwinden der sozialen Intelligenz und einem zunehmenden Unvermögen, was zwischenmenschliche Kommunikation betrifft, einhergeht und auch das Formulieren von Gedanken beeinträchtigt. Ein von diesem Leiden befallener Mensch wird schweigsam, er scheint immer in Gedanken versunken zu sein. Er ist mehr an Gegenständen und Mechanismen interessiert. Etwa am Zweiten Weltkrieg, den Biografien bekannter Persönlichkeiten, besonders von Politikern und Verbrechern. Er verlernt fast völlig, Romane zu lesen,


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