Tief eingeschneit. Louise Penny
zu. Lemieux’ Anspannung ließ ein wenig nach.
»Der wird wohl elektrisch betrieben. Der Strom, der Madame de Poitiers umgebracht hat, kam wahrscheinlich von diesem Heizstrahler. Trotzdem ist sie an einer ganz anderen Stelle zusammengebrochen. Könnte es sein, dass er nicht richtig angeschlossen war und Madame de Poitiers irgendwie damit in Berührung gekommen ist und es geschafft hat, noch ein paar Schritte zu gehen, bevor sie zusammengebrochen ist? Was meinen Sie?«
»Darf ich eine Vermutung äußern?«
Gamache lachte. »Ja, aber erzählen Sie Inspector Beauvoir nichts davon.«
»Die Leute hier in der Gegend benutzen ständig Generatoren, um Strom zu erzeugen. Jeder hat einen. Ich halte es für möglich, dass sie jemand an einen davon angeschlossen hat.«
»Sie meinen, jemand hat ein Überbrückungskabel genommen und die beiden Klammern an den Enden an ihr festgeklemmt?« Er bemühte sich, nicht allzu ungläubig zu klingen, aber es fiel ihm schwer. »Glauben Sie nicht, dass sie das gemerkt hätte?«
»Nicht, wenn sie beim Curling zugesehen hat.«
Der junge Lemieux und Chief Inspector Gamache hatten offenbar unterschiedliche Erfahrungen, was Curling anging. Gamache fand genug Gefallen daran, um sich die Landesmeisterschaft im Fernsehen anzusehen. Das war in Kanada praktisch eine Pflichtveranstaltung. Aber es war nichts, worüber er alles andere vergaß. Er bekäme es ganz sicher mit, wenn Reine-Marie plötzlich einen Generator anwerfen und zwei riesige gezahnte Klemmen an seinen Ohren befestigen würde.
»Irgendwelche anderen Vorschläge?«
Lemieux schüttelte den Kopf und bemühte sich um einen Gesichtsausdruck, in dem sich angestrengtes Nachdenken widerspiegelte.
Jean Guy Beauvoir hatte sich von der Spurensicherung losgerissen und gesellte sich wieder zu Gamache, der jetzt vor dem Heizstrahler stand.
»Wie wurde dieses Gerät betrieben, Jean Guy?«
»Keine Ahnung. Wir haben die Fingerabdrücke gesichert und Fotos gemacht, Sie können es also anfassen, wenn Sie wollen.«
Die beiden Männer umrundeten den Pfosten, beugten sich abwechselnd nach unten und blickten gen Himmel, wie zwei Mönche auf einem sehr kurzen Pilgergang.
»Hier ist der Schalter.« Gamache drückte darauf, und es geschah nichts, was nicht weiter verwunderlich war.
»Ein neues Rätsel.« Beauvoir lächelte.
»Hört das denn niemals auf?«
Gamache sah zu Agent Lemieux, der auf einer der Zuschauerbänke saß, in seine kalten Hände hauchte und etwas in sein Notizbuch schrieb. Der Chief Inspector hatte ihn gebeten, seine Aufzeichnungen zu ordnen.
»Was halten Sie von ihm?«
»Lemieux?«, fragte Beauvoir und spürte, wie ihm das Herz schwer wurde. »Ganz in Ordnung.«
»Aber?«
Woher wusste er, dass es ein Aber gab? Nicht zum ersten Mal hoffte Beauvoir, dass Gamache nicht tatsächlich seine Gedanken lesen konnte. Da oben befand sich eine Menge Müll. Wie sein Großvater zu sagen pflegte: »Stöbere lieber nicht in deinem Kopf herum, mon petit. Dort ist es sehr gruselig.«
Diesen Rat hatte er stets befolgt. Beauvoir verbrachte wenig Zeit mit der Erforschung seiner Gedankenwelt, und noch weniger mit der anderer. Er zog Fakten vor, Beweise, Dinge, die man sehen, anfassen und festhalten konnte. Das Denken überließ er mutigeren Männern wie Gamache. Aber jetzt fragte er sich, ob der Chief sich nicht auf irgendeine Art und Weise Zutritt zu seinem Kopf verschafft hatte. Er würde dort auf eine Menge peinliche Dinge stoßen. Mehr als nur ein bisschen Pornographie. Ein oder zwei Phantasien, die um Agent Isabelle Lacoste kreisten. Und eine sogar um Agent Yvette Nichol, Polizistin in Ausbildung, die ihnen vor ungefähr einem Jahr zugeteilt worden war und sich als absolute Katastrophe entpuppt hatte. Bei dieser Phantasie spielte Zerstückelung eine gewisse Rolle. Falls Gamache tatsächlich in Beauvoirs Kopf herumkramte, würde er allerdings, was seine Person betraf, auf nichts außer Hochachtung stoßen. Wenn er tief genug wühlte, würde er zu guter Letzt vielleicht die Kammer finden, die Beauvoir vorzugsweise sogar vor sich selbst verschlossen hielt. In dieser Kammer hausten Beauvoirs Ängste, stinkend und hungrig. Verborgen hinter der Angst vor Zurückweisung und Nähe, kauerte die Angst davor, Gamache eines Tages zu verlieren. Und hinter dieser Angst wiederum, in jener verborgenen Kammer, gab es noch etwas. Dort versteckte sich Beauvoirs Liebe, Schutz suchend zusammengerollt zu einer winzigen Kugel in den hintersten Winkel seines Geistes verbannt.
»Ich finde, er ist zu bemüht. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich traue ihm nicht.«
»Weil er die Dorfbewohner verteidigt hat, die versucht haben, Madame de Poitiers zu helfen?«
»Natürlich nicht«, log Beauvoir. Er mochte es nur nicht, wenn man ihm widersprach, vor allem nicht, wenn das ein halber Junge tat. »Er schien keine Ahnung zu haben, worum es geht. So etwas sollte nicht vorkommen. Nicht bei einem Beamten der Sûreté.«
»Er hat keine Erfahrung mit Mordfällen. Das ist wie bei einem praktischen Arzt, der plötzlich jemanden operieren muss. Theoretisch müsste er dazu in der Lage sein, und er ist wahrscheinlich besser dafür ausgebildet als ein Busfahrer, aber er tut es normalerweise eben nicht. Ich bin nicht sicher, wie gut ich zurechtkäme, wenn man mich plötzlich ins Drogendezernat oder zur Dienstaufsicht versetzen würde. Ich schätze, dass mir einige Fehler unterlaufen würden. Nein, ich finde, Agent Lemieux hat seine Sache ganz gut gemacht.«
Daher weht der Wind, dachte Beauvoir. »Ganz gut ist nicht gut genug«, sagte er. »Sie hängen die Latte ziemlich tief, Sir. Das ist die Mordkommission. Die Elite der Sûreté.« Er bemerkte, das Gamache unwillig reagierte, wie immer, wenn solche Begriffe fielen. Aus irgendeinem Beauvoir unbegreiflichen Grund wollte Gamache nicht hören, was nun einmal eine unumstößliche Tatsache war. Selbst in den obersten Etagen gab man das zu. Nur die Besten der Besten schafften es zur Mordkommission. Die Klügsten, die Mutigsten, die Leute, die jeden Morgen ihr behagliches Heim verließen, ihren Kindern einen Abschiedskuss auf die Stirn drückten und sich hinaus in die Welt begaben, um Verbrecher zur Strecke zu bringen, die mit Vorsatz töteten. Da war kein Platz für die Schwachen. Und Auszubildende waren per se schwach. Schwäche führte zu Fehlern, und Fehler führten dazu, dass irgendetwas ganz fürchterlich schiefging. Der Mörder konnte entkommen, um erneut zu töten, vielleicht sogar einen Angehörigen der Sûreté. Vielleicht einen selbst, vielleicht – die Tür ging einen winzigen Spalt auf, und ein Dämon entfloh der verborgenen Kammer –, vielleicht Armand Gamache. Eines Tages wird ihn sein Bedürfnis, jungen Polizisten weiterzuhelfen, umbringen. Beauvoir knallte die Tür wieder zu, jedoch nicht ohne einen Moment lang eine heftige Wut auf den Mann vor sich zu verspüren.
»Wie oft müssen wir das eigentlich noch durchmachen, Sir«, sagte Beauvoir, und seine Stimme klang auf einmal hart und ärgerlich. »Wir sind ein Team. Ihr Team, wir werden immer jede Anordnung von Ihnen befolgen. Aber bitte, bitte hören Sie auf, so etwas von uns zu verlangen.«
»Ich kann nicht, Jean Guy. Ich habe Sie in Trois-Rivières aufgelesen, wissen Sie noch?«
Beauvoir verdrehte die Augen.
»Sie saßen in einem Korb im Schilf.«
»Gras, Sir. Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass es Gras war. Drogen. Ich saß in einem Haufen konfiszierter Drogen. Und es war kein Korb, es war ein Eimer. Von Kentucky Fried Chicken. Und ich saß auch nicht drin.«
»Oh, das tut mir aber leid. Ich habe Superintendent Brébeuf erzählt, dass ich Sie in einem Korb gefunden habe. So was. Aber Sie erinnern sich? Sie waren lebendig unter einem Berg von Beweisstücken begraben, und warum? Weil Sie allen dermaßen auf die Nerven gegangen waren, dass man Sie für alle Zeiten in die Asservatenkammer verbannt hatte.«
Beauvoir erinnerte sich jeden Tag daran. Niemals würde er den Moment vergessen, in dem er gerettet worden war. Von dem groß gewachsenen Mann mit den kurz geschnittenen grau melierten Haaren, der untadeligen Kleidung und den freundlichen dunkelbraunen Augen.
»Sie haben sich gelangweilt und