Tief eingeschneit. Louise Penny

Tief eingeschneit - Louise Penny


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eilten die verschneiten Bürgersteige entlang und blieben gelegentlich stehen, um in ein hell erleuchtetes Schaufenster zu blicken.

      Ihr Ziel lag direkt vor ihnen. Ogilvy’s. Das Schaufenster. Sogar aus einer Entfernung von einem halben Häuserblock konnte Clara den Schimmer sehen, und die Verzauberung, die sich auf den Gesichtern der Kinder davor spiegelte. Augenblicklich spürte sie die Kälte nicht mehr, und die Menschenmassen, die eben noch gedrängelt und geschubst hatten, wichen zurück; selbst Myrna verschwand im Hintergrund, als sich Clara dem Schaufenster näherte. Da war es. Die alte Mühle im Wald.

      »Wir treffen uns drinnen«, flüsterte Myrna, aber ihre Freundin war nicht mehr da. Clara war in das Schaufenster geklettert. Vorbei an den entzückten Kindern, die davorstanden, über den Lumpenhaufen auf dem Bürgersteig hinweg mitten in das idyllische Winterbild. Sie ging gerade über die Holzbrücke, auf Großmutter Bär in der hölzernen Mühle zu.

      »Haben Sie ein bisschen Kleingeld übrig?«

      Ein würgendes Geräusch durchfuhr Claras Welt.

      »Iiih, das ist ja eklig, Mommy«, rief ein Kind, als Clara ihre Augen von dem Schaufenster losriss und nach unten sah. Der Haufen Lumpen hatte sich übergeben, und sein Mageninhalt dampfte auf der verkrusteten Decke, in die sich der Mann eingewickelt hatte. Oder die Frau. Clara wusste es nicht, es war ihr auch egal. Sie ärgerte sich, weil sie das ganze Jahr über, all die Wochen und Tage auf diesen Moment gewartet hatte und irgendein Penner einfach darauf gekotzt hatte. Jetzt heulten die Kinder, und der Zauber war dahin.

      Clara wandte sich von dem Schaufenster ab und sah sich nach Myrna um. Sie musste schon hineingegangen sein, dachte Clara, zu dem großen Ereignis. Sie waren an diesem Tag nicht nur wegen des Schaufensters bei Ogilvy’s. Ruth Zardo, eine Nachbarin und gute Freundin aus dem Dorf, stellte in der Buchhandlung im Untergeschoss des Kaufhauses ihr neuestes Buch vor.

      Normalerweise übergab sie ihre schmalen Gedichtbände einer anonymen Leserschaft, nach einer Lesung im Bistro in Three Pines. Aber es war etwas Erstaunliches passiert. Die alte, verbitterte Dichterin aus Three Pines hatte den Literaturpreis des Generalgouverneurs gewonnen. Das hatte alle umgehauen. Nicht etwa, weil sie es nicht verdiente. Clara wusste, dass ihre Gedichte wunderbar waren.

      Wer verletzte dich so unheilbar,

      dass du die ausgestreckte Hand mit Verachtung strafst?

      Es war nicht immer so.

      Nein, Ruth Zardo verdiente den Preis. Es hatte sie nur erschreckt, dass andere das auch wussten.

      Wird es mir mit meinen Arbeiten eines Tages ähnlich ergehen?, fragte sich Clara, als sie von der Drehtür in die parfümgeschwängerte gedämpfte Atmosphäre von Ogilvy’s gewirbelt wurde. Werde auch ich eines Tages ans Licht der Öffentlichkeit befördert? Endlich hatte sie den Mut aufgebracht, CC de Poitiers, der neuen Nachbarin, eine Mappe mit ihren Arbeiten zu übergeben, nachdem sie im Bistro zufällig mitbekommen hatte, wie diese von ihrem Busenfreund Denis Fortin erzählte.

      Wenn man eine Ausstellung in der Galerie Fortin in Outremont, dem Intellektuellenviertel von Montréal, hatte, bedeutete das, man hatte es geschafft. Fortin wählte nur die Allerbesten aus, die aktuellsten, vielversprechendsten und respektlosesten Künstler. Er hatte auf der ganzen Welt Verbindungen. Selbst … durfte sie wagen, das zu denken? Zum Museum of Modern Art in New York. Das MOMA. MOMA mia.

      Clara stellte sich die Vernissage in der Galerie Fortin vor. Sie würde vor Witz sprühen, umringt von Bewunderern, weniger bedeutende Künstler und umso bedeutendere Kritiker würden an ihren Lippen hängen, damit ihnen bloß keines ihrer klugen Worte entging. Peter würde etwas abseits von dem Kreis der Bewunderer stehen und das Ganze mit einem angedeuteten Lächeln beobachten. Er wäre stolz auf sie und würde sie endlich als ebenbürtige Künstlerin betrachten.

      Crie saß auf der schneebedeckten Treppe von Miss Edwards Schule. Inzwischen war es dunkel. Drinnen und draußen. Sie starrte stur geradeaus, ohne etwas zu sehen, auf ihrer Mütze und ihren Schultern sammelte sich der Schnee. Neben ihr stand eine Tasche, in die sie ihr Schneeflocken-Kostüm gestopft hatte. Und ihr Zeugnis.

      Nur Einser.

      Ihre Lehrer hatten ts, ts, ts gemacht, den Kopf geschüttelt und geseufzt, dass gerade ein derart gestörtes Kind so viel Verstand besaß. Das ist eine dicke, fette Ungerechtigkeit, hatte einer von ihnen gesagt, und alle hatten gelacht. Bis auf Crie, die zufällig in dem Moment vorbeigegangen war.

      Die Lehrer kamen überein, dass sie mit demjenigen, der sie so sehr verletzt hatte, dass sie kaum zu sprechen oder anderen in die Augen zu sehen wagte, ein ernstes Wörtchen sprechen mussten.

      Schließlich stand Crie auf und machte sich mit vorsichtigen Schritten auf den Weg in die Innenstadt von Montréal, auf dem glatten, steilen Weg und unter der Last des unerträglich schweren Gewichts der Chiffon-Schneeflocke ununterbrochen um Balance ringend.

      4

      Als Clara durch das Kaufhaus ging, fragte sie sich, was schlimmer war, der Gestank des armen Penners oder der aufdringliche Geruch aus der Parfümerieabteilung. Nachdem etwa zum fünften Mal irgendein abgemagertes junges Ding Clara angesprüht hatte, wusste sie die Antwort. Sie ekelte sich schon vor sich selbst.

      »Das wurde aber auch Zeit.« Ruth Zardo hinkte auf Clara zu. »Du siehst aus wie eine Beutelratte.« Sie küssten sich zur Begrüßung auf die Wangen. »Und du stinkst.«

      »Das bin nicht ich, das ist Myrna«, flüsterte Clara, nickte zu der neben ihr stehenden Freundin und wedelte sich mit der Hand vor der Nase herum. Die Begrüßung der Dichterin war sehr viel herzlicher als sonst ausgefallen.

      »Hier, kauf das.« Ruth reichte ihr ein Exemplar ihres neuen Buchs, Mir geht’s GUT. »Ich schreibe dir sogar eine Widmung rein. Aber zuerst musst du es kaufen.«

      Ruth Zardo, groß gewachsen und würdevoll, ging auf ihren Stock gestützt zu dem kleinen Tisch in einer Ecke des riesigen Ladens, um dort auf jemanden zu warten, der das Buch von ihr signiert haben wollte.

      Clara ging und zahlte das Buch, dann ließ sie es sich signieren. Sie kannte ausnahmslos alle, die sich hier eingefunden hatten. Da waren Gabri Dubeau und sein Freund Olivier Brulé. Gabri war groß und ausladend, eindeutig ein Schleckermaul, das nicht Nein sagen konnte. Er war Mitte dreißig und hatte entschieden, dass er genug davon hatte, jung, gestählt und schwul durchs Leben zu gehen. Na ja, nicht unbedingt davon, schwul zu sein. Neben ihm stand Olivier, gut aussehend, schlank, elegant. Anders als sein Freund war er blond, zupfte gerade ein beunruhigendes Strähnchen Haare von seinem seidenen Rollkragenpullover und wünschte sich dabei ganz offensichtlich, er könne es wieder einpflanzen.

      Ruth hätte nicht den ganzen Weg nach Montréal zurücklegen müssen, um ihr Buch vorzustellen. Die einzigen Leute, die gekommen waren, stammten aus Three Pines.

      »Das ist reine Zeitverschwendung«, sagte sie und beugte den Kopf mit den kurz geschnittenen weißen Haaren über Claras Buch. »Niemand aus Montréal ist gekommen, nicht eine lausige Seele. Nur ihr. Wie öde.«

      »Vielen herzlichen Dank, alte Wortklauberin«, sagte Gabri, der zwei Bücher in seinen großen Händen hielt.

      »Weißt du«, Ruth sah hoch, »das hier ist eine Buchhandlung«, sagte sie betont langsam und laut. »Hier kommen Leute her, die lesen können. Es ist keine öffentliche Badeanstalt.«

      »Eigentlich schade.« Gabri sah zu Clara.

      »Es ist Myrna«, sagte sie, aber da Myrna auf der anderen Seite des Gangs stand und mit Emilie Longpré plauderte, glaubte ihr kein Mensch.

      »Wenigstens überdeckst du den Mief von Ruths Gedichten«, sagte Gabri und hielt Mir geht’s GUT von sich weg.

      »Alte Schwuchtel«, zischte Ruth.

      »Alte Schachtel«, zischte Gabri und zwinkerte Clara zu. »Salut, ma chère.«

      »Salut, mon amour. Was ist das andere, das du da hast, für ein Buch?«, fragte Clara.

      »Das ist von CC de Poitiers. Wusstest du,


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