Rechts und links. Roth Józef
wenn es überflüssig war: „Die Bibliothek meines Sohnes!” oder zum Dienstmädchen: „Anna, gehen Sie in die Bibliothek meines Sohnes!” – obwohl es im Haus keine andere gab. Eines Tages versuchte Paul, seinen Vater nach einer Photographie zu zeichnen. „Mein Sohn hat ein frappierendes Talent”, sagte der alte Bernheim – und er kaufte Skizzierbücher, Farbenstifte, Leinewände, Pinsel und Öl, nahm einen Zeichenlehrer auf und begann, einen Teil des Dachbodens in ein Atelier umzubauen.
Zweimal in der Woche, am Vorabend, von fünf bis sieben, übte Paul mit seiner Schwester auf dem Klavier. Man hörte sie vierhändig spielen – immer wieder Tschaikowsky —, wenn man am Haus vorbeiging. Manchmal sagte ihm einer am nächsten Tag: „Ich habe dich gestern vierhändig spielen gehört!” „Ja, mit meiner Schwester! Sie spielt noch viel besser als ich.” Und alle ärgerten sich über das kleine Wörtchen „noch”.
Die Eltern nahmen ihn in Konzerte mit. Er summte dann Melodien, nannte Werke, Komponisten, Konzertsäle und die Dirigenten, die er nachzuahmen liebte. In den Sommerferien fuhr er in die weite Welt damit er „nichts verlerne”, mit einem Hofmeister. Er fuhr in Berge, über Meere, an wildfremde Küsten, kam schweigsam und stolz zurück und begnügte sich mit hochmütigen Andeutungen, als setzte er die Kenntnis der Welt bei allen anderen voraus. Er hatte Erfahrungen. Alles, was er las und hörte, hatte er schon gesehen. Nützliche Assoziationen schuf sein flinkes Gehirn. Aus „seiner Bibliothek” bezog er überflüssige Details, mit denen er blendete. Sein Zettel mit „Privatlektüre” war der ausführlichste. Seine Lässigkeit wurde ihm „nachgesehen”. Sie warf keinen Schatten auf sein „sittliches Betragen”. Es wurde angenommen, daß ein Haus wie das Bernheimsche eine genügende Gewähr für gute Sitte böte. Widerspenstige Lehrer zähmte der Vater Pauls durch Einladungen zu einem „bescheidenen Abendessen”. Eingeschüchtert durch den Anblick des Parketts, der Bilder, des Dienstpersonals und der hübschen Tochter kehrten sie zurück in ihre kargen Behausungen.
Die Mädchen konnten Paul Bernheim keineswegs einschüchtern. Er wurde mit der Zeit ein flotter Tänzer, ein angenehmer Plauderer, ein wohldressierter Sportsmann. Im Laufe der Monate und Jahre wechselten seine Neigungen und seine Talente. Ein halbes Jahr galt seine Leidenschaft der Musik, einen Monat dem Fechten, ein Jahr dem Zeichnen, ein Jahr der Literatur und schließlich der jungen Frau eines Bezirksrichters, deren Bedarf an Jünglingen in dieser nur mittelgroßen Stadt kaum gedeckt werden konnte. In der Liebe zu ihr vereinigte er alle seine Talente und Leidenschaften. Für sie malte er Landschaften und weiße Kühe, für sie focht er, komponierte er, dichtete er Lieder über die Natur. Schließlich wandte sie sich einem Fähnrich zu, und Paul versenkte sich, um „sie zu vergessen”, in die Kunstgeschichte. Ihr beschloß er nun sein Leben zu widmen. Er konnte bald keinen Menschen sehn, keine Straße, kein Stückchen Feld, ohne einen berühmten Maler und ein bekanntes Bild zu zitieren. In der Unfähigkeit, etwas unmittelbar aufzunehmen und einfach zu bezeichnen, übertraf er schon in jungen Jahren alle Kunsthistoriker von Rang.
Aber auch diese Leidenschaft erlosch. Sie machte einem gesellschaftlichen Ehrgeiz Platz. Sie hatte vielleicht nur zu diesem übergeleitet. Sie war die Hilfswissenschaft einer gesellschaftlichen Karriere. Einen gewissen selig naiven, charmanten und fragenden Augenaufschlag mochte Paul Bernheim ganz bestimmten Heiligenbildern abgeschaut haben. Es war ein Blick, der halb den Menschen traf und ein wenig den Himmel streifte. Die Augen Pauls schienen das Licht des Himmels durch ihre langen Wimpern zu filtrieren.
Mit derlei Reizen ausgestattet, mit einem an der Kunst und ihren Kommentaren geschulten Geschmack stürzte er sich in das gesellige Leben der Stadt, das in der Hauptsache aus den Bemühungen der Mütter bestand, ihre heranwachsenden Töchter zu verheiraten. In allen Häusern, in denen Mädchen lebten, war Paul gerne gesehen. Er konnte jeden Ton anstimmen, der gerade verlangt wurde. Er glich einem Musikanten, der alle Instrumente des Orchesters beherrscht und der es versteht, mit Anmut falsch zu spielen. Eine Stunde lang konnte er gescheite (erdachte und erlesene) Dinge sagen. Eine Stunde später zeigte er einen warmen, lächelnden Plaudereifer, trug er zum zehntenmal eine platte Anekdote vor, stattete sie immer wieder mit einem neuen Zug aus, liebkoste er mit der Zunge einen banalen Aphorismus, hielt ihn noch eine Weile zwischen den Zähnen, schmeckte ihn mit den Lippen nach, brachte er mit leichtem Gewissen Witze vor, die andern gelungen waren, machte er sich schamlos lustig über abwesende Altersgenossen. Und die Mädchen kicherten, ein nacktes Kichern, sie entblößten nur ihre Zähne, aber es war, als enthüllten sie ihre jungen Brüste, sie schlugen nur die Hände zusammen, aber es war, als spreizten sie die Beine, sie zeigten ihm Bücher, Bilder und Notenhefte, aber es war, als schlügen sie ihre Betten auf, sie richteten sich das Haar, aber es war, als lösten sie es. Um jene Zeit fing Paul an, ins Bordell zu gehn, zweimal in der Woche, mit der Regelmäßigkeit eines alternden Beamten, um dann von der Köstlichkeit erfundener Mädchenkörper zu erzählen, die er natürlich mit berühmten Bildern verglich. Er berichtete Geheimnisse von der und jener Haustochter und beschrieb Brüste, die er gesehen und gefühlt haben wollte.
Immer noch malte, zeichnete, komponierte und dichtete er. Als seine Schwester sich verlobte – mit einem Rittmeister übrigens, – machte er ein längeres Gelegenheitsgedicht, vertonte, spielte und sang es. Später – weil sein Schwager Interesse für Maschinen hatte – begann auch Paul, sich für die Technik zu interessieren und den Motor seines Autos – es war eines der ersten in der Stadt – eigenhändig zu zerteilen. Schließlich nahm er Reitstunden, um seinen Schwager in der Reitallee im Tannenwäldchen zu begleiten. Die Bürger der Stadt fingen an, nachsichtiger dem alten Herrn Bernheim gegenüber zu werden, weil es ihm gelungen war, der Heimat ein Genie zu schenken. Manch einer von den Feinden Bernheims, der sich lange Zeit verletzt gefühlt hatte, begann, weil in seiner Familie indessen eine heiratsfähige Tochter heranwuchs, Felix Bernheim wieder untertänig zu grüßen.
Um jene Zeit verbreitete sich das Gerücht, daß Herrn Bernheim eine große Auszeichnung bevorstehe. Einige sprachen von einer Erhebung in den Adelsstand. Es war lehrreich, zu beobachten, wie diese Aussicht auf den Adel Bernheims die Gehässigkeit seiner Gegner beruhigte. Der zukünftige Adel Bernheims erschien als eine ausreichende Erklärung für den Hochmut des Bürgerlichen. Man kannte nunmehr die wissenschaftliche Grundlage seines Stolzes und fand ihn also berechtigt. Denn nach der Meinung der Stadt war die Arroganz die Zierde des Adligen, des Geadelten und sogar noch desjenigen, der bald geadelt werden sollte.
Es ist unbekannt, welche wirklichen Grundlagen jenes Gerücht hatte. Vielleicht wäre Herr Bernheim nur ein Geheimer Kommerzienrat geworden. Aber da ereignete sich etwas Unerwartetes, Unwahrscheinliches. Eine Geschichte, die so banal ist, daß man sich schämen würde, sie zum Beispiel in einem Roman zu erzählen.
Eines Tages kam ein Wanderzirkus in die Stadt. Während der zehnten oder elften Vorstellung geschah ein Unfall: Eine junge Akrobatin fiel vom Trapez, gerade in die Loge, in der Herr Felix Bernheim saß allein (denn seine Familie hielt Zirkusvorstellungen für vulgäre Spektakel). Man erzählte später, Herr Bernheim hätte die Künstlerin „geistesgegenwärtig” in den Armen aufgefangen. Aber das ist nicht genau festzustellen – ebensowenig, wie jenes Gerücht noch zu kontrollieren ist, das wissen will, er hätte sich seit der ersten Vorstellung für das Mädchen interessiert und ihr Blumen geschickt. Sicher ist, daß er sie ins Krankenhaus brachte, sie besuchte und sie nicht mehr mit dem Zirkus abreisen ließ. Er mietete ihr eine Wohnung und hatte den Mut, sich in sie zu verlieben. Er, der Stolz des Bürgertums, der Anwärter auf den Adelsstand, der Schwiegervater eines Rittmeisters, verliebte sich in eine Akrobatin. Frau Bernheim erklärte ihrem Mann: „Du kannst deine Mätresse ins Haus nehmen, ich fahre zu meiner Schwester.” Sie fuhr zu ihrer Schwester. Der Rittmeister ließ sich in eine andere Garnison versetzen. Das Haus der Bernheims war nur noch von den zwei Söhnen und den Dienstboten bewohnt. Die gelben Gardinen hingen monatelang vor den Fenstern. Der alte Bernheim allerdings veränderte sein Gehaben nicht. Er blieb hochmütig, er trotzte aller Welt, er liebte ein Mädchen. Von seiner Auszeichnung war keine Rede mehr.
Es war vielleicht die einzige mutige Tat, die Felix Bernheim in seinem Leben gewagt hatte. Später, als sein Sohn Paul eine ähnliche hätte wagen können, dachte ich an die des Vaters, und es wurde mir wieder einmal an einem Beispiel klar, wie die Tapferkeit sich im Ablauf der Geschlechter erschöpft und um wieviel schwächer die Söhne sind, als die Väter waren.
Das fremde Mädchen lebte nur ein paar Monate in der Stadt. Als wäre