Silvia - Folge 2. Jürgen Bruno Greulich
SILVIA
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Jürgen Bruno Greulich
Artcover: Giada Armani
Copyright: BERLINABLE UG
Berlinable lädt dich ein, alle deine Ängste hinter dir zu lassen und in eine Welt einzutauchen, in der Sex der Schlüssel zur Selbstbestimmung ist.
Unsere Mission: Die Welt verändern - Seele für Seele.
Akzeptieren Menschen ihre eigene Sexualität, formen sie eine tolerantere Gesellschaft.
Worte der Inspiration, des Mutes, der Veränderung.
Öffne deinen Geist und befreie deine tiefsten Begierden.
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Vor einem kalten Auge
Kein Wecker klingelte am Morgen, keinen Wolfgang und keine Ursula musste Silvia begrüßen, keine Kette klirrte, von keinem herablassenden Blick wurde sie gestreift, der Albtraum war vorbei, ein neuer Traum begann. Dass er besser würde, daran gab es in diesem Moment keinen Zweifel. Schlaftrunken verließ sie das Bett, das für sie allein bestimmt war und aus dem niemand sie verbannen würde, um ihr eine Matratze davor als Schlafplatz zuzuweisen. Sie ging ans hohe Fenster und schaute hinab in den Park, sah das Gittergerüst der laublosen Laube, dahinter die mächtigen kahlen Bäume des englischen Parks. Es war hell draußen, der Himmel grau bedeckt, irgendwo links, wohin sie von hier aus nicht schauen konnte, erstreckte sich der französische Garten zum See und zur Trauerweide, unter der sie manchmal mit den anderen Mädchen gesessen war an heißen Sommertagen. Nun war sie ein zweites Mal hier im Schloss angekommen, dieses Mal aus eigenem Willen und eigener Kraft, wie von einem Magneten angezogen. Es war wie ein Märchen.
Bis spät in die Nacht hatte sie sich gestern nach ihrer Ankunft mit Corinna unterhalten, erst beim Kaffee, später beim roten Wein, hatte von den Ereignissen der vergangenen Monate und des letzten Wochenendes berichtet, hatte ihr Herz keiner „Herrin“, sondern einer Freundin ausgeschüttet. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ihr jemand zugehört und sie ernst genommen, sich für sie interessiert, einen Menschen in ihr gesehen, nicht eine Funktion. Die Freiheit war gar nicht kalt wie befürchtet, sie schenkte Geborgenheit und Schutz. Dass es keine wirkliche Freiheit war, störte nicht, denn Freiheit war es nicht, das sie suchte, da es sie sowieso nicht gab, für niemanden, außer im Tod. Sie war frei von Wolfgang und Ursula, das genügte, mehr hatte sie nicht gewollt.
Ihr Zimmer war geräumig und hoch, ausgestattet mit einem Kleiderschrank aus hellem Holz, einem runden Tisch mit zwei Polsterstühlen, einem Fernseher und einer kleinen Stereoanlage ohne Subwoofer, dessen Kontrolllicht den Bereitschaftszustand anzeigte, unglaublich, wie schändlich Wolfgang mit ihr umgesprungen war. Die kleine Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte gleich halb zehn; sie machte sich frisch im angrenzenden kleinen Bad mit Dusche und Toilette und kramte aus ihrem Koffer ein schwarzes knielanges Kleid heraus. Gerne hätte sie einen Slip darunter getragen, um mal wieder richtig angezogen zu sein, was ja möglich gewesen wäre, jetzt, da Wolfgangs Regeln nicht mehr galten, doch hatte sie keinen und auch kein Geld, um einen zu besorgen bei einem Einkaufsbummel im kleinen Städtchen. Es würde so gehen müssen, bis sich eine Lösung fand irgendwie.
Zögernd nahm sie den Hörer des blauen Telefons ab, das ebenfalls auf dem Nachttisch stand, und drückte die Eins. Sie solle anrufen, wenn sie so weit sei, hatte die Herrin, nein, Corinna, vor dem Zubettgehen gesagt. Hoffentlich störte sie nicht. Zweimal hörte sie das Freizeichen, dann erklang Corinnas Stimme. „Guten Morgen, Silvia. Hast du gut geschlafen?“
„Ja, danke …“ Beinahe hätte sie es hinzugefügt, das ergebene „meine Herrin“, die diese Frau doch gar nicht mehr war, für sie jedenfalls nicht mehr, aber doch wurde sie noch immer so genannt von ihrem Geist, in den die Ehrfurcht vor ihr tief eingegraben war.
Zwei Minuten später stand Corinna vor ihrer Tür; keine Strenge ging von ihr aus, nichts Ehrfurchtgebietendes, jung sah sie aus in ihrem knielangen roten Kleid und liebevoll war das Lächeln, mit dem sie Silvia einen Schlüssel reichte. „Der ist für den Personaleingang. Damit kommst du jederzeit ins Haus.“ Dann gab sie ihr den weißen Briefumschlag, den sie in der anderen Hand hielt. „Ich nehme mal an, dass du nicht das meiste Geld mitgenommen hast. Hier ist ein bisschen, falls du einkaufen gehen willst oder so.“
„Ja, aber …“
„Kein Aber. Nimm’s einfach. Es ist kein Geschenk, sondern ein Vorschuss, der irgendwann von deinen Einkünften abgezogen wird.“
Von den Einkünften? Der Gedanke daran war nicht ohne Reiz. Und nicht ohne Vorbehalt. Würde sie es wirklich fertigbringen, ihr Geld auf diese Weise zu verdienen, die hier im Haus die einzig mögliche war? Ach, warum nicht? Sie hatte es doch schon gekonnt, drüben im Mädchentrakt mit den fremden Männern, und wäre sie innerlich nicht bereit dazu, hätte ihr Weg sie nicht schnurstracks hierher geführt.
Von diesen Gedanken notdürftig beschwichtigt, ging sie neben Corinna her die Treppe hinunter, um den Mädchen vorgestellt zu werden, jedenfalls denen, die zu dieser frühen Stunde schon beim Frühstück saßen. Unten kamen sie am Foyer vorbei, in dem man einen Staubsauger brummen hörte, und die nächste Tür führte in den Speiseraum. Dieser sah freundlicher aus als der im „Mädchenhaus“. Auf jedem der vier Tische stand eine bauchige Vase mit frischen Rosen, Gerbera und Chrysanthemen, die Stühle hatten blaue Polster und an den weißen Wänden hingen Aquarelle mit unverfänglichen Landschaftsmotiven. Vier junge Frauen saßen an einem Tisch vor dem Fenster, durch das man auf den leeren Platz vor dem Haus schaute, und wie eine Personalchefin stellte Corinna sie vor: Laura war eine hoch aufgeschossene blauäugige Blondine im hochgeschlossenen knielangen flauschigen Kleid, Monika eine rassige Schönheit mit lockigem schwarzem Haar, fast kohlschwarzen Augen und üppigen Formen; Christine war die Kleinste von ihnen, eine braunäugige hübsche Brünette, die einen kurzen Rock und eine weite Bluse trug.
„Und das ist Iris“, sagte Corinna. „Vermutlich kannst du dich noch an sie erinnern.“
Natürlich erinnerte sich Silvia an Iris, die zarte Blüte, die Gefügige, die Introvertierte, deren Gebieter ihr Vater war, ein Bekenntnis, bei dem Corinna seinerzeit sogar die Regeln vergessen hatte. Sie trug eine Jeans und einen dunklen Pullover. Etwas länger war ihr rehbraunes Haar geworden, doch ebenso scheu wie damals schauten die dunklen Augen und einer versunkenen Welt entstammte ihr Lächeln.
Auch sie konnte sich noch erinnern. „Hallo, Silvia. Hat es dich auch hierher verschlagen?“
Hilflos zuckte Silvia mit den Achseln. „Wie’s halt so geht. Und du? Bist du schon lange wieder hier?“
„Ich bin gleich hiergeblieben nach der Zeit im Mädchenhaus, ging gar nicht mehr heim.“
Das konnte Silvia gut verstehen, doch sagte sie lieber mal nichts dazu, um nicht in Wunden zu wühlen, die vermutlich nie richtig heilen würden. Corinnas Beispiel folgend, ging sie zur Anrichte hinüber, auf der es so ziemlich alles gab, was man für ein Frühstück benötigte, und nahm sich eines der duftenden Brötchen, dazu etwas Butter, ein hart gekochtes Ei und eine Tasse Kaffee. Die Mädchen rückten zusammen, damit sich Corinna und Silvia auch noch an den Tisch quetschen konnten, der eigentlich nur für vier gedacht war.
Der Kaffee, so bemerkte Silvia beim ersten Schlückchen, schmeckte ausgezeichnet, stark und aromatisch, besser als der daheim. Obwohl dieses „Daheim“ das ihre ja gar nicht mehr war, fiel ihr ein.
Die kleine Brünette wandte sich an Corinna. „Sollen wir die Fotos gleich heute Vormittag machen oder lieber noch warten?“
Mit dem Aufschneiden ihres Brötchens beschäftigt, zuckte Corinna mit den Achseln. „Das musst du Silvia fragen, nicht mich.“