Haus Justine - Folge 9. Jürgen Bruno Greulich

Haus Justine - Folge 9 - Jürgen Bruno Greulich


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keinen Termin.«

      »Vielleicht verbringt er die Tage im Kreis der Familie.«

      Ihr Gebieter als normaler Familienvater mit Frau und Kindern im Wohnzimmer beim Weihnachtsbaum? Nein, unmöglich, diese Vorstellung. Eher residierte er als finsterer Fürst in einem Palast mit dunklen Verliesen, im Haus Justine also, vielleicht verbrachte er die Feiertage dort, vielleicht wohnte er dort sogar, vielleicht war er der Leiter der ominösen Organisation, der Mann, der die Fäden in der Hand hielt, über Wohl und Wehe der Mädchen wachte und den Freunden des Hauses die paradiesischen Tage abseits der Welt ermöglichte, es hätte sie nicht gewundert.

      Sie spürte den Hauch einer Berührung an der Schulter, schaute auf, blickte direkt ins bleiche Gesicht des großen Hageren vom Nachbartisch. Sein schwarzes Haar hing wirr vom Kopf, die dunklen Augen lagen in tiefen Höhlen, markante Falten begrenzten die hohlen Wangen, spitz stand seine Nase hervor, die ganze Gestalt strahlte Tragik aus. Was wollte er von ihr? Er beugte sich zu ihr herab, sie wich zurück und hörte ihn flüstern: »Cornelia die Dritte, du bist ein hübsches Kind.«

      »Was wollen Sie?« Verwirrt schaute sie ihn an. Wie kam er dazu, sie so direkt und unverblümt in aller Öffentlichkeit anzubaggern?

      »Du trägst einen interessanten Armreif. Hat es dir gefallen im Haus Justine?« Schweigend senkte sie den Blick. So war das also: er gehörte zu den Eingeweihten, ihr Armreif signalisierte ihm ihre Verfügbarkeit, was sie bisher theoretisch gewusst hatte, war ganz unerwartet Wirklichkeit geworden. »Wir werden uns bald wieder sehen.« Noch leiser wurde die flüsternde Stimme: »Ich freue mich auf dich.« Seine Hand strich über ihr Haar, als gehöre sie ihm bereits, und er ging zu seinem Platz zurück, flüsterte der Dunkelhaarigen einige Worte ins Ohr.

      »Was war das?« Groß waren Olivias Augen auf Cornelia gerichtet.

      Sollte sie versuchen, das Offensichtliche abzustreiten? Wozu? Es konnte ja doch nicht gelingen. »Das, was du denkst.«

      »Man erkennt dich am Armreif?«

      »Nur, wer Bescheid weiß.«

      »Dann ist dieser Armreif wie ein Stigma?« Cornelia schwieg. Der Armreif und der gelüpfte Rock, unter dem sie nichts trug, für den, der lesen konnte, war sie nackt und trug das Brandmal ihrer Käuflichkeit auf der Stirn. Olivias Hand legte sich auf die ihre, sie beugte sich zu ihr herüber. »Du lebst hier mitten in der Stadt und doch in einer ganz anderen Welt.«

      »Es war das erste Mal, dass man mich darauf ansprach.« Es war eine hilflose Bemerkung, die nichts änderte. Der Appetit auf das Frühstück war ihr vergangen, wie mechanisch, als habe sie eine Pflicht zu erfüllen, aß sie nur noch den kleinen Rest ihres halben Brötchens auf und drängte zum Aufbruch, wollte nicht länger hier sitzen unter dem Blick des Bleichen, der Frau und des Mannes bei ihm, die sicherlich auch über sie Bescheid wussten. Olivia bezahlte die Rechnung wollte Cornelia auch einmal einladen, nicht immer nur eingeladen werden, gab der Bedienung ein reichliches Trinkgeld. Sie tranken die Tassen leer und sanft, fast unmerklich, glitten Olivias Fingerspitzen über Cornelias Handrücken, streiften wie zufällig den Armreif. »Darf ich heute noch bei dir bleiben?«

      Cornelia hatte nichts dagegen, ganz im Gegenteil, brauchte die Sonne im Augenblick mehr als den Regen. Sie halfen sich gegenseitig in den Mantel, beobachtet vom Bleichen und seinen Begleitern. Wie sich von ihm verabschieden? Cornelia wusste nicht, was ihm zustand und er erwartete, warf ihm ein flüchtiges scheues Lächeln zu, das er mit einem ernsten Kopfnicken erwiderte.

      Draußen auf der Straße starrte Olivia sie noch immer mit großen Augen an. »Und wenn er dich jetzt gleich hätte haben wollen?«

      »Das darf er nicht. Es ist alles genau geregelt, sehr professionell, sehr gewissenhaft.«

      »Und wer setzt diese Regeln fest, wer organisiert so etwas?«

      »Es ist das Haus, in dem man Frauen Mädchen nennt. Wer hinter dem Haus steht, weiß ich nicht.«

      Sie erreichten die Straßenbahnhaltestelle und stellten die Unterhaltung ein; im Gegensatz zu den Eilenden in den Straßen hatten die Wartenden Zeit und Muße, den Worten der Umstehenden zu lauschen. Der klagend warme Ton eines Saxofons wehte von der anderen Straßenseite herüber, keine Weihnachtsmelodie, sondern ein Jazzlauf, der Straßenmusiker im dicken Mantel wurde kaum beachtet, sein Spiel gehörte nicht in diese Welt, es wurde abgeschnitten, als sich die Tür der Straßenbahn hinter Olivia und Cornelia zischend schloss.

      Gemeinsam bereiteten sie am Abend eine Lasagne zu, deckten den Tisch festlich mit einer roten Tischdecke und gefalteten Servietten, stellten den Wein bereit, machten einen Salat mit Schafskäse, gekochtem Schinken, Oliven. Wieder griff Olivia das Thema auf, über das sie nicht hinwegkam: »Stört es deinen Leopold denn nicht, wenn andere Männer dich haben?«

      »Er will es so, er hat mich dafür freigegeben.«

      »Unglaublich. Es klingt wie ein Märchen. Auch dieses Haus könnte einem Traum entstammen.«

      »Wessen Traum? Deinem?«

      »Wie soll ich davon träumen, wenn ich kaum etwas davon weiß?«

      »Wie soll man von dem träumen, von dem man alles weiß? Viel reizvoller sind die Dinge, die man nicht kennt.«

      »Dann bist du ja sehr bemüht, mir meine Träume zu erhalten.«

      Eigentlich, dachte Cornelia, eigentlich könnte sie Olivia wirklich vom Haus Justine erzählen. Sie wusste schon so viel von ihr, dass sie dieses Geheimnis auch nicht mehr erschüttern würde. Oder doch? Schon das Geschehen bei Leopolds Besuch hier zu Hause wollte nicht über ihre Lippen kommen, wie viel weniger konnte sie dann von den delikaten Szenen im Pavillon berichten, von all den Demütigungen, die sich auch die eifrige Fantasie einer Olivia nicht würden ausmalen können. Nein, es war unmöglich. Umso erstaunlicher, dass es ihr bei Georg so leichtfiel. Vielleicht lag es bei ihm am Telefon, daran, dass er ihr nicht gegenübersaß, sie ihn nicht sehen musste während ihrer Schilderung, vielleicht auch lag es daran, dass er ein Mann war und sich nicht identifizieren musste mit dem, was er da hörte. »Irgendwann wirst du alles wissen«, sagte sie prophetisch, behielt den Zusatz aber für sich: Und wenn du es in Georgs Geschichte liest, die vielleicht irgendwann einmal fertig wird.

      Sie nahm die Lasagne aus dem Backofen und zuckte zusammen. »Autsch!« Es war, als stünde die Spitze des Mittelfingers in Flammen, sie hatte sich an der heißen Auflaufform gebrannt. Sie eilte zur Spüle und ließ kaltes Wasser über die Fingerspitze laufen, eine Erste-Hilfe-Maßnahme, die man ihr als Kind schon beigebracht hatte.

      Ebenso besorgt wie hilflos stand Olivia neben ihr. »Ist es arg?«

      Nein, es war nicht arg, nur eine Lappalie. Weh tat es trotzdem. Cornelia verabscheute den Schmerz, akzeptierte notgedrungen nur den, der ihre finstere Lust befreite, die ohne ihn gefangen bliebe, der Werkzeug war, doch verabscheute sie auch ihn, mochte nur das, was er bewirkte. »Gäbe es doch nur das Essen ohne den Hunger, den Rausch ohne die Ernüchterung, das Glück ohne das Leid.« Sie drehte das Wasser ab.

      »Vermutlich hast du dich als Strafe Gottes für deine Geheimniskrämerei gebrannt.«

      »Ich brauche keinen Gott zur Bestrafung.« Unangemessen erschien ihr sogleich die Leichtigkeit ihrer Worte.

      Immerhin, die Lasagne war gut gelungen, die Käsekruste knusprig braun, die Hackfleischfüllung würzig und nicht zu sehr in Flüssigkeit gebadet, die Nudelplatten weich gekocht, nicht hart geblieben, wie es manchmal schon passiert war. Nach den ersten Bissen klingelte das Telefon. Entsetzt starrte Cornelia es an. War er das etwa, der erwartete, gefürchtete, insgeheim vielleicht ersehnte Anruf, ausgerechnet jetzt? Oder war es ganz harmlos, einfach nur ein Bekannter? Es klingelte ein zweites, ein drittes Mal. Und wenn sie einfach nicht abnahm? Es gab nicht die Verpflichtung, ständig zu Hause und verfügbar zu sein. Aber es gab Leopolds Macht, der sie nicht entkommen konnte, auch nicht in diesem Augenblick. Sie nahm es zur Hand, stellte die Verbindung her, hielt es atemlos ans Ohr. — Ja, es war Leopold, ihr Gebieter. Ruhig klang seine Stimme, dunkel und selbstbewusst, aristokratisch. »Hallo, Cornelia. Mach dich bereit. Ich werde in einer halben Stunde bei dir sein.«

      »Aber


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