Musterbrecher. Dominik Hammer
Ausmaß. So hat Google die Kühlung des eigenen Rechenzentrums so optimieren können, dass eine Energieeinsparung von bis zu 40 Prozent möglich wurde.14 Und die US-amerikanische Bank J.P. Morgan Chase konnte sogar die Zeit, die Sachbearbeiter mit der Prüfung von Kreditverträgen verbrachten, von 360 000 Stunden auf wenige Sekunden reduzieren.15 All das gelingt mithilfe künstlicher Intelligenz oder kurz: KI.
Dieser etwas unklare, teilweise umstrittene, andererseits »hochgejazzte« Begriff »KI« ist bereits 1955 von dem Mathematikprofessor John McCarthy geprägt worden. Doch als die Visionen und Versprechen der damit aufkommenden Wissenschaft sich nicht erfüllten, fiel diese in einen Dornröschenschlaf, aus dem die KI aufgrund neuer computertechnischer Möglichkeiten erst Mitte der 1990er-Jahre wiedererweckt wurde. Es kam zu rasanten Entwicklungen, von denen wir alle mittlerweile betroffen sind, und nicht selten haben wir diese fest in unserem Alltag verankert: vom Navigationssystem mit Stauwarnung über die individuell optimierte Reiseplanung bis hin zu Sprachassistenzsystemen wie Siri, Alexa und Co. Überall stecken Algorithmen dahinter, die Problemlösungen liefern, die vor wenigen Jahrzehnten in ähnlicher Form nur von Menschen hätten geliefert werden können.
Es ist beeindruckend, wie die bisher realisierten KI-Systeme in großen Datenmengen (Big Data) Muster erkennen und Zusammenhänge herstellen. In manchen Ländern ist die Mustererkennung so weit im Einsatz, dass der biometrische Scan des Gesichts ausreicht, um eine Zahlung zu tätigen.
Ob diese Systeme wirklich mit Komplexität umgehen können, bleibt allerdings fraglich. Mit Sicherheit kann gesagt werden, dass Machine Learning und Deep Learning sowie tiefe neuronale Netze Korrelationen in Daten erkennen und statistische Aussagen treffen können, zu denen Menschen nicht fähig sind. Zweifellos ist es beeindruckend, dass als AlphaGo den Weltmeister im chinesischen Strategiespiel Go schlug. Ein Sieg, den eine ganze Reihe von IT-Wissenschaftlern kurz davor noch für unmöglich gehalten hatte. Erreicht wurde dies, weil eine KI mit 30 Millionen Spielzügen trainiert worden war. Dieser Erfolg wurde im Jahr darauf noch gesteigert, als AlphaGo Zero sich selbst trainiert hatte, also nicht mehr von menschlichen Daten lernte, und gegen AlphaGo mit hundert zu null gewann.16
Doch diesem Hype sollte man durchaus mit einer gewissen Distanz begegnen – ohne damit die Möglichkeiten etwa in der medizinischen Diagnostik, der Spracherkennung oder in der Prozessoptimierung zu verteufeln. Denn solange wir noch keine starke KI entwickelt haben,17 also eine künstliche Intelligenz sozusagen auf Augenhöhe mit dem Menschen, solange ist sie dem Menschen in vielerlei Hinsicht unterlegen. Es kann im Umgang mit Komplexität hilfreich sein, auf der Basis von Statistik bisher unbeachtete Zusammenhänge zu erkennen.18 Doch Komplexität wird dadurch noch lange nicht reduziert. Vielmehr entstehen neue komplexe Fragestellungen: Wie entscheidet eine KI im Zweifelsfall? Wer haftet, wenn sie sich irrt? Welche Lösungen bietet die KI, wenn über viele Krankheiten wenig bis kaum Daten vorhanden sind? Ist es noch nachvollziehbar, wie die KI entschieden hat, oder war möglicherweise »maschinelle Willkür« im Spiel? Durch solche und ähnliche Fragen, die durch den Versuch der Komplexitätsreduzierung entstehen, wird das Gegenteil bewirkt: Komplexität wird (sogar noch) erhöht.
Noch muss in der Regel die vorhandene schwache künstliche Intelligenz auf wechselnde Situationen vorbereitet werden.19 Menschen können Inhalte in neue Kontexte übertragen. Sie können bisher ungestellte Fragen stellen, und sie können über den Status quo hinausblicken.20 Aus diesem Grund lassen wir uns nach heutigem Stand zu der Aussage hinreißen:
KI experimentiert nicht mit Ungewissheit.
Vielleicht wäre es besser zu sagen: noch nicht. Aber bisher ist nicht zu erkennen, wo und wie KI wirkliche Antworten auf Ungewissheit geben sollte. Denn es sind Entscheidungssituationen, in denen Momente von Überraschungen enthalten sind.
Gerhard Wohland bezeichnet Überraschungen als Ereignisse ohne erkennbaren Grund – als enttäuschte Erwartungen. Bezogen auf Organisationen lösen diese meist durch eigene oder fremde Ideen bewirkten Ereignisse Dynamik aus. Je enger Märkte sind, desto häufiger müssen wir davon ausgehen, dass fremde Ideen entstehen. Ein Kennzeichen einer globalisierten Welt ist Dynamik beziehungsweise sind Überraschungen – und das bedeutet, dass Probleme erzeugt werden.
Was folgt daraus? Man kann nicht nach Prozessen und Strukturen rufen, wie man es bisher immer dann tat, wenn ein Problem festgestellt wurde. Ließen sich nämlich geeignete Prozesse und Strukturen finden, dann läge keine Überraschung vor. Menschen müssen zusammenkommen und etwas tun, was nur sie können, und nach einer Antwort oder einer »Gegenüberraschung« suchen. Management und Führung – die wir im Weiteren nicht gedanklich trennen wollen – müssen somit eine andere Rolle als bisher einnehmen. Sie müssen bewusst zu einem Anwalt der Ungewissheit werden. Bewusst deshalb, weil sie schon längst unbewusste »Ambivalenzprofis« sind.
Führung und Management bringen in gleichem Maße Ungewissheit in die Organisation, wie sie Sicherheit versprechen.
Sie stören eingefahrene Abläufe, verkünden neue operative und strategische Ziele, verändern die Ressourcenzuteilung – in Zukunft immer mehr mithilfe künstlicher Intelligenz – oder setzen beispielsweise Projektteams neu zusammen. Dies alles sind Eingriffe, die die Sicherheit zerstören und Verwirrung stiften. Und dabei ist es egal, ob diese Handlungen auf einer gut begründeten Entscheidung fußen oder nicht. Interessanterweise werden diese Interventionen als logisch und objektiv geplant deklariert. Durch die Hintertür schleicht sich so das Argument der Sicherheit wieder ein. Obwohl von Sicherheit keine Rede sein kann.
Hier kann die Vorstellung von einem Experiment weiterhelfen. Das Experiment hat die Ungewissheit sozusagen automatisch im Gepäck und lässt Management und Führung die eigene Rolle wahren. Es kann aber im Grunde nicht scheitern, denn es ist darauf ausgelegt, aus Unerwartetem zu lernen. Und man lernt immer etwas. Bitte nicht falsch verstehen! Experimente in diesem Sinne animieren das Management nicht zu fahrlässigem Herumprobieren. Managementexperimente sind kein russisches Roulette. Sie gefährden nicht die Organisation als Ganzes.
Das Experiment ist die sichere Einführung der Ungewissheit in die Organisation.
Es kennzeichnet eine Haltung und keine Methode. Experimentieren gelingt nicht nur dann, wenn man in der Position des Bürgermeisters von Curitiba ist. Auch muss man dazu nicht den Mut haben, den das Team um Jaime Lerner hatte. Dinge auszuprobieren und daraus zu lernen, das kann jeder bewusst in seinen Alltag einbauen. Und auch wenn die Digitalisierung mehr und mehr in Unternehmen Einzug hält, so gilt es, den Mut zu haben, am Übergang zwischen Mensch und KI zu experimentieren. Wir brauchen gerade auch im Umgang mit lernenden Maschinen den Mut, »mit hohem Tempo zu experimentieren und zu lernen«, wie es die Digitalisierungsexperten Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee propagieren.
Vermutlich muss gerade dort experimentiert werden, wo Digitalisierung, Machine Learning und Big Data an ihre Grenzen stoßen: an der Schnittstelle zu Menschen und im Umgang mit Überraschungen.
Im Falle echter Auseinandersetzung mit dem einzelnen realen Menschen ist Führung mehr denn je gefragt.
Noch nie haben wir auf einem Firmenrundgang so vielen Menschen die Hände geschüttelt. Christoph Kraller, Chef der Südostbayernbahn – kurz SOB – hat uns über das Firmengelände geführt. Er zeigt uns vom Fahrkartenschalter über die Prozesse von Reinigung, Wartung und Instandhaltung der Lokomotiven bis hin zur Leitstelle alles, was man in Mühldorf über die Bahn erfahren kann. Jungenträume werden wahr, wir dürfen sogar den Führerstand einer Diesellok der Baureihe 218 betreten und sind dann doch im nächsten Moment ernüchtert: Was für ein enger, nicht klimatisierter, lauter und sehr abgewohnter Arbeitsplatz – nicht vergleichbar mit dem Cockpit, das man aus dem ICE der neuesten Generation kennt, und weit weg von den digitalen Möglichkeiten autonomer Fortbewegung!
Die Mitarbeitenden, denen wir auf unserem Rundgang begegnen, begrüßt der Chef mit Handschlag. Es wirkt alles angenehm unaufgeregt. Wer dem Chef etwas Dienstliches mitzuteilen hat, der sagt es ohne Umschweife. Wir gewinnen den Eindruck, dass Christoph Kraller ein sehr »nahbarer« Vorgesetzter ist.
Dieser Eindruck verstärkt sich, als wir an einem runden Tisch in seinem Büro sitzen. »Ich mag Menschen, und darum habe ich gerne Kontakt mit ihnen. Deshalb ist mir auch ein höflicher Umgang wichtig. Dadurch können viele Probleme gelöst werden,