Unterwegs mit dir. Sharon Garlough Brown

Unterwegs mit dir - Sharon Garlough Brown


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39-jährige Hannah Shepley lächelte in sich hinein. 15 Jahre lang war sie nun schon zweite Pastorin in der Westminster Church in Chicago, und sie liebte ihre Arbeit noch immer.

      „Wir sollten uns treffen, um miteinander zu beten“, bot Hannah an, nahm sich ihren Terminkalender vor und überflog die Termine für diesen Tag: Dienstag, der 5. August. Der Tag war vollständig verplant bis hin zu einer Verabredung zum Abendessen. „Ist zwanzig Uhr heute Abend zu spät für Sie?“, fragte Hannah. „Ich besuche Sie gern zu Hause. Aber natürlich können Sie auch in mein Büro kommen. Wie es Ihnen besser passt.“ Sie verabredeten sich in Hannahs Büro.

      Hannah hatte große Sorgfalt darauf verwandt, durch die Ausstattung des Büros eine heimelige Atmosphäre zu schaffen. Eigentlich war es jetzt sogar viel gemüt­licher als in ihrer Wohnung, und das war gut so. Menschen, die in einer Krise steckten, sollten ihr Büro als einen Zufluchtsort empfinden, und tatsächlich war es so, dass sie selbst ohnehin viel mehr Zeit hier verbrachte als zu Hause. Einmal hatte sie nachgerechnet, wie viele Stunden sie sich in ihrer Wohnung aufhielt, und sie hatte festgestellt, dass es nicht mal ein Drittel des Tages war.

      Selbst die Krankenhäuser lagen weiter vorn.

      Hannah warf einen Blick auf die Uhr und schnappte sich ihre Schlüssel. Sie sollte um 10:00 Uhr im Krankenhaus sein, um Ken Walsh zu besuchen, der am offenen Herzen operiert werden sollte. Und wenn sie schon mal da war, konnte sie auch gleich nach Mabel Copeland sehen, die sich von einer Hüftoperation erholte. Wenn sie sich beeilte, bliebe noch genug Zeit, um unterwegs ein paar Blumen zu besorgen.

      Im Flur stieß sie beinahe mit Steve Hernandez zusammen, dem Hauptpastor ihrer Gemeinde. „Na, hast du es schon wieder eilig?“, fragte Steve.

      Hannah strich sich ihre kinnlangen, braunen Haare hinter die Ohren. „Das ist wieder mal einer von diesen Tagen, an denen ich an drei Orten gleichzeitig sein müsste. Du weißt ja, wie das ist.“

      „Kann ich dir heute irgendetwas abnehmen?“, fragte Steve.

      Diese Frage stellte Steve immer, und Hannah verneinte sie jedes Mal. Sie hatte alles im Griff. Trotzdem war sie dankbar, dass er fragte. Viele Pastoren nahmen ihre zweiten Pastoren als selbstverständlich hin. Aber Steve nicht. Er behielt den geist­lichen Zustand seiner Mitarbeiter im Blick, und sie liebten ihn dafür.

      „Achte darauf, dass du dir heute auch mal Zeit zum Verschnaufen nimmst, Hannah.“

      Sie lachte. „Der Termin zum Durchatmen ist am Donnerstag in einer Woche.“

      

      Am folgenden Morgen klopfte Steve um kurz vor 8:00 Uhr an ihre geöffnete Bürotür. „Schon wieder so früh bei der Arbeit?“, fragte er mit einem Blick auf seine Uhr.

      Hannah blickte von ihren Unterlagen hoch und unterdrückte ein Gähnen. „Ich war schon früh im Krankenhaus, um mit Ted und seiner Familie noch vor seiner Operation heute Morgen zu beten. Eigentlich wollte ich gleich dortbleiben und mit den Angehörigen zusammen warten, aber ich habe um neun eine Besprechung. Ich fahre später noch mal hin, um mich zu erkundigen, wie die Operation gelaufen ist.“ Sie deutete auf ihre braune Couch. „Komm doch rein, Steve. Setz dich.“

      Er schob ein Kissen und eine Decke zur Seite. „Hast du etwa hier übernachtet?“

      „Ich schlafe nachher noch eine Runde.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. „Was gibt’s?“

      Steve atmete tief durch. „Hannah, die Ältesten und ich sind zu einer Entscheidung gekommen, die dir sicher nicht gefallen wird. Aber ich hoffe, du kannst sie als Geschenk annehmen.“

      Hannah biss die Zähne zusammen und überlegte sofort, was das sein könnte. Erstaunlich, wie viele unterschied­liche Gedanken einem innerhalb von fünf Sekunden durch den Sinn schießen konnten. Sie war aufgeschreckt. Sollte der Mitarbeiterstab neu organisiert werden? Wurde ein Dienstzweig gekürzt? Wollte man ihr ein anderes Team anvertrauen?

      „Wir schicken dich in eine neunmonatige Sabbatzeit“, erklärte er. „Ab September.“

      Ihre wirbelnden Gedanken kamen abrupt zum Stillstand. „Das … das verstehe ich nicht“, stammelte sie und suchte in seinem Gesicht nach nonverbalen Hinweisen.

      „Ich weiß. Aber wir beobachten dich nun schon seit einer Weile, und es wird höchste Zeit. Du arbeitest jetzt seit fast fünfzehn Jahren hier, ohne Pause. Es ist längst überfällig.“

      „Aber viele Pastoren arbeiten viel länger und haben nie frei“, hielt sie dagegen. „Außerdem habe ich im vergangenen Jahr sechs Wochen Pause eingelegt!“

      Steve lachte. „Um dich von einer größeren Operation zu erholen! Und wenn ich mich recht entsinne, hast du von zu Hause aus weitergearbeitet.“

      Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Ich brauche keine Sabbatzeit. Ich liebe meine Arbeit, und es geht mir gut.“

      „Dieses Mal gibt es kein Herausreden, Hannah. Die Entscheidung ist gefallen. Und weil so viele Leute in der Gemeinde dich sehr schätzen und lieben – und damit du dich wirklich entspannen kannst –, haben wir Geldspenden bekommen, die deine Auszeit auch finanziell absichern.“

      Hannah hatte noch nie gehört, dass einer Pastorin eine so lange Sabbatzeit gewährt worden war. Das machte sie misstrauisch. Da man ihr immer sehr schnell ansah, was sie dachte, wandte sie sich ab und studierte eingehend die Topfpflanze und den Luftballon mit der Aufschrift „Gute Besserung!“, die sie Ted später am Tag ins Krankenhaus bringen wollte.

      Steve ahnte ihre Reaktion voraus und reagierte auf ihre unausgesprochenen Ängste: „Wir wollen dich nicht loswerden, Hannah. Keine Sorge. Du machst deine Arbeit großartig, die Gemeinde liebt dich und du bist eine prima Kollegin.“

      Noch immer hielt sie den Blick abgewandt. Sie traute sich selbst nicht. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er sich vorbeugte, seine Ellbogen auf die Knie stützte und die Hände faltete. Dies war Steves Haltung, wenn er es ernst meinte, und eigentlich war sie reserviert für besonders schwierige Situationen: Ehepaare, die kurz vor einer Scheidung standen; Teenager, die mit Selbstmordgedanken kämpften; Eltern, die nach dem Tod eines Kindes ihren Glauben zu verlieren drohten. Steve drückte dann bildlich gesprochen die Hacken fest in den Boden und zog mit aller Kraft an dem unsichtbaren Seil die Betroffenen vom Abgrund der Verzweiflung zurück in die starken Arme Jesu.

      Ganz eindeutig schien Steve der Ansicht zu sein, dass Hannah an einem Abgrund stand. Aber wie kam er darauf? Sie brauchte das Seil nicht. Gar nicht, überhaupt nicht.

      „Erinnerst du dich noch an diese wundervolle Predigt über Johannes fünfzehn, die du vor ein paar Monaten gehalten hast?“, sagte er.

      Hannah antwortete nicht. Sie hatte das ungute Gefühl, dass ihre Auslegung des Bildes von Jesus als dem Weinstock und Gott als Gärtner gleich von hinten über sie herfallen und sie beißen würde.

      „Du hast der Gemeinde zu erklären versucht, dass es keine Strafe ist, wenn ein Weinstock beschnitten wird, sondern dass es seiner Verbesserung dient. Du hast uns daran erinnert, dass Gott uns formt, wenn er uns beschneidet, sodass wir Christus ähn­licher werden. Jesus hat gesagt, dass die Zweige, die beschnitten werden, diejenigen sind, die die beste Frucht bringen. Und du bringst Frucht, Hannah. Viel Frucht. Diese Sabbatzeit ist keine Strafe – sieh sie doch als eine Möglichkeit, dich neu zu formieren. Es ist an der Zeit, dass Gott einmal für dich sorgt, um dich zu erhalten.“

      „Aber schon im September?“, rief sie. „Das ist unmöglich! Ich habe die Herbstveranstaltungen doch bereits geplant. Auf keinen Fall kann ich einfach alles stehen und liegen lassen. Und wer soll denn überhaupt für mich einspringen?“

      Steve zögerte, und sein Zögern verriet Hannah alles, was sie wissen musste. Das Ganze war schon seit längerer Zeit geplant. Aber sie hatten es ihr verschwiegen. Warum war sie denn nicht vorgewarnt worden? Warum hatten sie sie nicht in die Planung mit einbezogen? Mehr noch, warum war sie gar nicht erst um ihre Meinung gefragt worden?

      „Es ist bereits alles geregelt, Hannah. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich verspreche es.“


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