Arkadien. Emmanuelle Bayamack-Tam
können. Er imponiert allein schon durch seine Erscheinung: Groß und gewaltig dick, hat er stets einen Knaufstock dabei, dessen Nutzen zwar fragwürdig ist, der dafür aber mächtig Eindruck macht. Der achteckige Knauf aus schwerem Elfenbein fügt sich in eine Strategie ein, die viel ausgeklügelter ist, als es den Anschein hat, doch ich kenne mich mit Äußerlichkeiten aus, mir selbst erschweren sie das Leben so sehr, dass ich nicht auf sie hereinfalle, und so ist mir nicht entgangen, dass Victor stets versucht, sich mit einer Aura von Vornehmheit und edler Abkunft zu umgeben. Darüber wird kein Wort verloren, während jedes Detail es glauben machen soll, von seinem Gehstock bis zu seiner kunstvoll geringelten silbrigen Frisur, von den gebauschten Ärmeln seiner Hemden zur vorgeblichen Lässigkeit seiner Lederpantoffel. Diese Eitelkeiten könnte ich ihm verzeihen, wenn er sie durch Herzenstugenden ausgleichen würde, aber er hat ja kein Herz, anders gesagt nur ein speckummanteltes Organ, das fleißig weiterschlägt, trotz aller Wunschgebete, die ich täglich aufs Neue formuliere. Da Fettleibigkeit die Lebenserwartung beträchtlich senkt, ist nichts daran auszusetzen, wenn man das Unvermeidliche herbeiwünscht. Leider durchkreuzt Victor jede Prognose und erscheint Tag für Tag voller Glanz und Theatralik an unserem Tisch, wo er sich einer grenzenlosen Gefräßigkeit hingibt. Im Liberty House werden die Mahlzeiten gemeinsam im Refektorium eingenommen, Victors absolutem Lieblingsraum, weil er so schön erhaben ist, beim Kreuzrippengewölbe angefangen, unter dem er unerhörte Essensmengen verschlingt – und sich dabei den scheußlichen Mund sachte mit einem Monogrammtaschentuch abtupft, da bei ihm alles Pose, affektierte, kalkulierte Verrenkung ist.
Bevor Liberty House sich in eine Zuflucht für Freaks verwandelte, war es ein Mädchenpensionat, und das Haus bewahrt noch vielerlei Spuren seiner ursprünglichen Bestimmung: das Refektorium, die Kapelle, die Lernstuben, die Schlafsäle und vor allem unzählige Porträts der Schwestern vom Heiligsten Herzen Jesu, eine ganze Serie von Ehrwürdigen und Glückseligen, die nur dem Namen nach glückselig waren, wenn man ihren tuberkulösen Teint und trüben Blick bedenkt. Ich weiß nicht, welches Sammelsurium von Bischöfen, Theologen und Ärzten über ihren Status befunden hat, jedenfalls wurden Verbitterung und Frustration offensichtlich mit Märtyrertum verwechselt. Ein Segen, dass ich mich inzwischen nicht mehr so leicht einschüchtern lasse wie früher, denn als ich hier ankam, machten mich diese vielen erbaulichen Farbdrucke eher mürbe. Ich fürchtete mich ganz besonders vor einer Ordensschwester aus Kerala, die in einem Flur im ersten Stock mit gelben Wangen und irren Augen nach mir spähte. Wenn ich an ihr vorbei musste, drückte ich mich an der Wand gegenüber entlang und hielt den Atem an, dennoch nahm ich die bleibende Wirkung ihres Grolls und die Ausdünstung aller üblen Fieber wahr, die sie hier befallen hatten. Im Gegensatz zu mir ist Victor ganz vernarrt in Maria-Eulalia vom Heiligsten Herzen und wollte eine Zeit lang ein Fresko in Auftrag geben, das sie mit ausgebreiteten Armen und ekstatischem Lächeln darstellen sollte, den Blick zum dornenbekrönten Herzen erhoben, dem sie ihr ganzes erbärmliches Leben gewidmet hatte. Als aber die Gäste des Liberty House dazu befragt wurden, stimmten sie zum Glück mit einer einzigen Ausnahme dagegen, sämtliche Mahlzeiten unter dieser frommen Ägide einzunehmen – denn natürlich wäre dem Refektorium die zweifelhafte Ehre eines Wandgemäldes der Erleuchteten von Kerala zuteil geworden.
Tatsächlich ist Victor nicht nur ein Heuchler und eitler Fatzke, er ist außerdem noch ein Frömmler der übelsten Sorte. Man muss ihm allerdings lassen, dass seine Verehrung für Maria-Eulalia sich gering ausnimmt im Vergleich zum Kult, den er um seinen berühmtesten Namensvetter betreibt, gemeint ist Victor Hugo. Oh ja, Victor der Kleine vergöttert den Großen. Selbst seine Begegnung mit Arkady erfolgte von Gnaden des Châtiments-Dichters – ob Gnade hier das richtige Wort ist, sei dahingestellt. Jedenfalls schlug bei beiden der Blitz ein, als sie gerade eine Büste von Hugo in dessen Pariser Gemächern an der Place des Vosges bewunderten. So sehr ich bedaure, dass Victor und Arkady sich ineinander verliebten, kann ich mich über die segensreichen Folgen ihrer Begegnung und Leidenschaft doch nur freuen, über dieses Phalansterium, das sie gemeinsam entworfen und verwirklicht haben, wobei sie sich in ihrem Größenwahn gegenseitig befruchteten, unter der Schirmherrschaft des illustren Meisters, selbst ein Experte in Megalomanie. Denn obwohl das Liberty House einst von in Gottesfurcht erstarrten Nonnen angeleitete und Zopf mit Schleife tragende Schülerinnen beherbergte, haben Arkady und Victor daraus einen Ort gemacht, der vom Geist Hugos durchweht ist und eher an das Hauteville House erinnert als an eine Klosterschule – schon allein wegen seiner Inneneinrichtung.
Geknausert haben sie jedenfalls nicht. Das karge Mobiliar der Nonnen wurde durch gotische Anrichten und Lehnstühle ersetzt, an allen Ecken und Enden stößt man auf prunkvolle Teppiche und Wandbehänge aus Damast. Und dann sind da noch die Spiegel, ein Steckenpferd von Victor, der sie mit manischer Entschlossenheit auf Trödelmärkten aufstöbert und in allen Varianten zur Schau stellt. Wandspiegel, Stehspiegel, dreiteilige Rasierspiegel, Hexenspiegel, Sonnenspiegel aus den 70er Jahren, Ankleidespiegel, blattvergoldete Spiegel, Intarsienspiegel, Spiegel mit Rahmen aus geflochtenem Rattan, Tau, Bambus, Messing, gekalktem Holz, Schmiedeeisen, asymmetrische, ovale, achteckige, rechteckige, facettierte Spiegel – im Liberty House kann man keinen Schritt tun, ohne seinem entgeisterten Ebenbild gegenüberzustehen. Mit entgeistert meine ich allerdings mich, denn Victor wirkt immer entzückt, wenn er sich betrachtet. Aus dem großen Salon hat er einen richtigen Spiegelsaal gemacht, in welchem er ständig umherstolziert, um jedes kleine Detail zu überprüfen und an die richtige Stelle zu rücken: den Gehstock mit Elfenbeinknauf, das karmesinrote Einstecktuch, die Manschettenknöpfe, die wohlgeordnete Fülle seiner schneeig schimmernden Locken. Leider werden alle Mühen, die er auf seine Erscheinung verwendet, von seiner unförmigen Hose mit Gummizug ruiniert, dem einzigen Modell, das solch eine knietief hängende Plautze zu fassen vermag. Auch wenn ich weiß, wie sehr Arkady jede Form von Monströsität toleriert, frage ich mich doch, wie ihr Sexualleben aussieht. Dessen ungeachtet lautet Victors Spitzname im Liberty House tatsächlich »Monsieur Mirror«. Und so wird man mir bestimmt nachsehen, dass ich Arkadys Schmährede gegen diese Spiegel für eine Art von Kritik am zügellosen Narzissmus seines Liebhabers gehalten habe. Schließlich war er selten so leidenschaftlich und überzeugend wie an jenem Tag, an dem er uns in die Kapelle zusammentrommelte, um uns jeglichen Blick auf spiegelnde Oberflächen zu untersagen. Seine Stimme vibrierte vor Eindringlichkeit, seine Wangen röteten sich, seine Faust flog nach oben oder stürzte auf das schwere Eichenpult nieder, wenn er seiner Empörung trommelnd Ausdruck verlieh:
»Nicht nur, dass die Spiegel zu eurer Seelenmarter beitragen – mir ist schleierhaft, was ihr dort erfahren oder nachprüfen wollt. Die Spiegel können euch nichts beibringen, rein gar nichts! Und sei es nur, weil sie ihren eigenen geometrischen Gesetzen folgen. Versucht doch mal, die linke Hand vor eurem Spiegel zu erheben, dann werdet ihr feststellen, dass euer Ebenbild die rechte hebt!«
Arkady lässt den Blick über seine Zuhörer schweifen, über all die offenen Münder und wackelnden Köpfe, die nur eines anstreben: die positive Bewertung ihres Schönheitskapitals. Sie haben wohl vergessen, dass man im Liberty House vor allem bei den weniger Begünstigten rekrutiert. Mit offensichtlicher Ausnahme meiner wunderschönen Mutter und meines Vaters, dem jeder Charme und regelmäßige Gesichtszüge bescheinigt, sehen alle anderen, ich inbegriffen, schauderhaft aus und können in der Tat von den Spiegeln keinerlei Trost erwarten. Arkady fährt fort:
»Außerdem ist nichts kälter und glatter als ein Spiegel! Was kann er schon von eurer Wärme einfangen, euren Unebenheiten, eurem Innenleben, also genau dem, was euch ausmacht und von jedem anderen unterscheidet? Wisst ihr was?«
Die Versammelten beben, atmen mit ihm ein und halten erwartungsvoll die Luft an. Arkady runzelt die Stirn, zieht die Augenbrauen zusammen und nimmt diesen herrischen Ausdruck an, der ihn in meinen Augen so unwiderstehlich macht.
»Wir werden alle Spiegel im Haus verhängen oder umdrehen. Alle! Auch die Spiegel, die ihr im Zimmer oder im Bad habt. Verstanden? Liberty House soll zur spiegelfreien Zone werden!«
Seine Schäfchen nicken, Arkady ist aber noch nicht fertig.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass manche von euch sogar Vergrößerungsspiegel besitzen. Das geht dann doch zu weit, meint ihr nicht? Jetzt mal ganz ehrlich: Welcher Teil – von euch, von mir, von uns – verdient so viel Aufmerksamkeit? Im Ernst?«
In einer der Reihen vor mir nehme ich wachsende Unruhe wahr, ein Rascheln und Stöhnen: Dadah möchte