Unwetter. Marijke Schermer
ist doch was Gutes, oder? In Beziehungen.«
»Ernsthaft.«
»Ich meine es ernst.«
»Glaubst du, dass sie sich besser kennen, als wir uns kennen?«
»Ja.«
»Aber es kann auch sein, dass man sich, gerade weil man die ganze Zeit zusammengluckt, gar nicht wahrnimmt, oder?«
»Ja.«
»Wenn man keinerlei Ansichten entwickelt hat, ohne den anderen dabei im Blick zu haben.«
»Ja, ja.« Er seufzt.
»Warum denkst du, dass sie sich besser kennen als wir uns?«
»Sie kennen die Familie, aus der der andere kommt, einer kennt die Eltern des anderen, was weiß ich. Sie wissen, welchen Rang der andere früher auf dem Schulhof hatte.«
»Das weiß ich auch von dir.«
Bruch sieht sie an.
»Nicht wirklich der Anführer, scheinbar gleichgültig, aber trotzdem tonangebend.«
Er lacht.
»Und?«
»Wenn ich jetzt ja sage, ist es dann wahr?«, fragt er.
»Soll ich dir mal mein Elternhaus zeigen? Sollen wir nach Groningen fahren, damit ich dir zeigen kann, mit welcher Aussicht ich aufgewachsen bin?«
»Das wäre nett.«
»Nett?«
»Interessant. Gern.«
»Glaubst du, dass du mich dann besser kennenlernst? Glaubst du, man kann sich nach zwölf Jahren noch besser kennenlernen?«
»Ja, natürlich.«
»Willst du das?«
»Ja. Warum nicht?«
»Ich war ein unglückliches Kind.«
»Ja, das weiß ich.«
»Glaubst du, es würde helfen, wenn ich dir noch genauer erzähle, wie unglücklich ich war?«
»Bei was helfen?«
»Mich besser kennenzulernen.«
»Sind wir jetzt in irgendeinem Projekt gelandet, Emilia? Einem Projekt, in dem ich dich besser kennenlerne?«
Bedauern bringt einen um, sagte ihr Vater. Sie hasste ihn für diesen Satz. Er bedauerte in ihrem Beisein die Vergangenheit, ignorierte sie dabei, ertränkte in diesem Bedauern jede Möglichkeit der Annäherung oder Besserung. Aber jetzt spürt sie, wie sie selbst die gleiche klamme Unruhe beschleicht. Sie hat ihre Chancen verpasst. Nach zwölf Jahren ist man für die Geheimnisse des anderen nicht mehr so empfänglich wie am Anfang. In der ersten Zeit damals veranlasste sie jede Einzelheit, die Bruch ihr erzählte, zu stundenlangem Sinnieren und Spekulieren über die Art seiner Gedanken und Gefühle, die Geheimnisse seines Charakters, die Details der Ewigkeit von vierunddreißig Jahren Leben vor ihr. Bei jeder Neuigkeit, die er ihr über sich erzählte, wurde alles wieder auf den Kopf gestellt, und sie ordnete Informationen um, füllte Lücken aus und setzte sich ein Bild zusammen, das ihr mit jeder weiteren Version begehrenswerter vorkam. Die Art, wie man jemanden kennenlernt, wenn man verliebt ist, dieses grenzenlose Interesse an Einzelheiten und Trivialitäten ist nicht wiederholbar.
»Vielleicht«, sagt er, während er vor ihr steht und die Fäuste auf den Tisch stützt, »vielleicht führen Douwe und Sophie ja ein ganz ähnliches Gespräch über uns. Sie finden es vielleicht abartig, wie alt wir waren, als wir uns ineinander verliebt haben. Und glauben, dass das niemals echt sein kann.«
»Und denken, dass wir Torschlusspanik hatten.«
»Angst davor, allein sitzen zu bleiben.«
»Vielleicht glauben sie nicht, dass ich drei Monate nachdenken musste.«
»Wer tut das schon?« Er sieht ihr in die Augen. Der Moment dauert ewig. Dann richtet er sich endlich auf und wendet sich ab.
»Ich mach das morgen fertig.«
»Tu das«, sagt sie.
5
Während ihres Soziologiestudiums hatte Emilia der Idealismus der Statistiker des neunzehnten Jahrhunderts ergriffen. Sie war begeistert von dem Belgier Adolphe Quetelet, der die Statistik in die Geisteswissenschaften einführte. Ihn bekümmerte, was er sah. Und er war überzeugt, dass man mit Hilfe zusammengetragenen Zahlenmaterials das nötige Wissen erlangen könne, um die Welt zu verbessern. Er zeichnete alles Mögliche auf: in welchem Alter Menschen am ehesten geneigt sind, kriminell zu werden, in welchen Monaten überdurchschnittlich viele Menschen sterben, in welcher Relation die Wohnverhältnisse zum Alkoholismus stehen und so weiter. Er prägte den Terminus des homme moyen, des »mittleren« Menschen, und versuchte, für diesen mittleren Menschen die idealen Lebensumstände zu entwerfen – und Emilia ließ sich von seinen Auffassungen anstecken. Sie machte Quetelet zu ihrem Examensthema und vertiefte sich in die Frage, inwiefern die Bezifferung der Wirklichkeit zu den richtigen Maßnahmen führen könnte. Sie interessierte sich auch für die Frage, welche Rolle Zahlen heutzutage für das Verständnis, aber auch für die Verschleierung von Sachverhalten spielten. Wann bezifferte die Statistik wirklich die Realität? Vertreter der herrschenden Politik veranlassten die Zusammenstellung von Daten, die längst getroffene Entscheidungen untermauern sollten. Die eine Untersuchung wurde ignoriert, die andere aufgebauscht. Sogenannte Fakten, die durch neuere Untersuchungen längst widerlegt waren, tauchten dennoch immer wieder überall auf. Unzählige Untersuchungen wurden auf Betreiben wirtschaftlicher Interessensgruppen angestellt. Noch vor Abschluss ihres Studiums zog sie mit drei befreundeten Kommilitonen SOS, kurz für Systematische Offenlegung von Statistiken, auf. Sie gingen den Zahlen hinter Nachrichtenmeldungen nach und veröffentlichten Statistiken und Artikel, die einen anderen Blick auf die Fakten boten. Generell bemühten sie sich darum, die vermeintliche Eindeutigkeit der Zahlen zu relativieren, indem sie sichtbar machten, welche Rolle dabei die Wahl eines bestimmten Modells oder die Definition einer spezifischen Gruppe spielten – also indem sie darlegten, dass die Normalverteilung nicht naturgegeben ist, sondern eine Konstruktion.
Sie wurden von politischen Entscheidungsträgern, Anwälten, Wissenschaftsredaktionen und Produktentwicklern angeheuert. Sie saßen in einer Kellerwohnung im Zentrum von Amsterdam und lasen und schrieben und rechneten und interpretierten. Martijn war der große Arithmetiker. Eddy der Mann, der das Wort führte und sie nach außen vertrat. Josepha spezialisierte sich auf die Nahrungsmittelbranche. Emilia hatte eine Nase für aktuelle Themen und stieß eigene Veröffentlichungen an.
Sie hatten ursprünglich beschlossen, lieber selektiv zu bleiben, als sich zu vergrößern, doch das Thema stand regelmäßig wieder auf der Tagesordnung. Sie könnten Leute einstellen, die sich mit Untersuchungen befassten, welche sie jetzt ablehnten, dann könnten sie selbst weiterhin ihren eigenen Interessen nachgehen und würden viel mehr verdienen. In dem Sommer, als sie Bruch kennenlernte, hatten sie hitzige Diskussionen darüber. Josepha und Eddy waren meistens dafür, Martijn und Emilia meistens nicht. Martijn, weil er menschenscheu war und überhaupt nicht an Geld interessiert. Emilia, weil ihr davor grauste, wenn aus einer Runde von Freunden, die Detektiv spielten, etwas Seriöses wurde, etwas mit Rentenversicherungsbeiträgen und Vorstellungsgesprächen. Zudem war sie insgeheim davon überzeugt, dass das Leben, das sie jetzt führte, eigentlich nicht sonderlich geeignet für sie war, und deshalb wollte sie es nicht noch fester verankern. Dabei schwangen ständig Ausbruchsphantasien mit. Sie malte sich ein anonymes Dasein in New York, Berlin oder notfalls Moskau aus. In dem Sommer, als sie mit Bruch durch die Stadt spazierte, sah sie sich nach Forschungsstellen im Ausland um.
An dem Tag Mitte August, als sie sich zum letzten Mal mit Bruch getroffen hatte, dem Tag vor der Nacht, als sie in ihrem Apartment misshandelt wurde, begann für sie ein kurzer Urlaub, sie hatte zehn Tage frei. Über diese Atempause war sie am Tag danach nur froh. Als die erste schlimme Woche vorüber war, tischte sie ihren Kollegen eine abgeschwächte Version auf, erzählte, sie sei zusammengeschlagen