Ein Zimmer für sich allein. Virginia Woolf
Ein Zimmer für sich allein
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Antje Rávik Strubel
Gatsby
Kapitel 11
Aber, werden Sie sagen, wir haben Sie gebeten, über Frauen und Literatur zu sprechen – was hat das mit einem Zimmer zu tun, das man für sich allein hat? Ich werde versuchen, es zu erklären. Als Sie mich baten, über Frauen und Literatur zu sprechen, setzte ich mich ans Ufer eines Flusses und begann zu überlegen, was diese Worte bedeuten könnten. Sie könnten bedeuten, einfach ein paar Bemerkungen über Fanny Burner zu machen; einige weitere über Jane Austen; die Brontës zu würdigen und das schneebedeckte Pfarrhaus von Haworth zu skizzieren; etwas möglichst Witziges über Miss Mitford zu sagen; respektvoll auf George Eliot anzuspielen; auf Mrs Gaskell hinzuweisen, und man wäre fertig.[1] Aber auf den zweiten Blick schienen die Worte nicht mehr so einfach zu sein. Der Titel Frauen und Literatur könnte bedeuten, und so könnten Sie ihn gemeint haben, Frauen und wie sie sind; oder er könnte bedeuten, Frauen und die Literatur, die sie schreiben; oder er könnte Frauen und die Literatur, die über sie geschrieben wird, bedeuten, oder er könnte bedeuten, dass alle drei irgendwie unauflösbar miteinander vermischt sind und dass Sie von mir erwarten, sie in diesem Licht zu betrachten. Als ich aber in letztgenannter Weise über das Thema nachzudenken begann, weil sie mir die interessanteste zu sein schien, begriff ich schnell, dass sie einen schwerwiegenden Nachteil hatte. Ich wäre nie in der Lage, zu einem Schluss zu kommen. Ich wäre nie in der Lage, die aus meiner Sicht wichtigste Aufgabe einer Rednerin zu erfüllen – Ihnen nach einem einstündigen Vortrag ein Körnchen reiner Wahrheit zu überreichen, das Sie zwischen die Seiten Ihrer Notizbücher stecken und für immer auf den Kaminsims legen können. Ich kann Ihnen nur eine Meinung zu einer Nebensache anbieten – eine Frau braucht Geld und ein eigenes Zimmer, um schreiben zu können; und das lässt, wie Sie sehen werden, das große Problem der wahren Natur der Frau und der wahren Natur der Literatur ungelöst. Ich habe mich vor der Aufgabe, in diesen beiden Fragen zu einem Schluss zu kommen, gedrückt – Frauen und Literatur bleiben, was mich betrifft, ungelöste Probleme. Aber um das ein wenig auszugleichen, werde ich tun, was ich kann, um Ihnen zu zeigen, wie ich zu dieser Meinung über das Zimmer und das Geld kam. Ich werde in Ihrem Beisein meinen Gedankengang, der zu dieser Ansicht führte, so vollständig und frei entfalten wie möglich. Wenn ich die Vorstellungen und die Vorurteile bloßlege, die dieser Aussage zugrunde liegen, werden Sie eventuell feststellen, dass sie eine gewisse Auswirkung auf Frauen und eine gewisse Auswirkung auf die Literatur haben. Keinesfalls aber kann man darauf hoffen, die Wahrheit zu sagen, wenn ein Thema höchst umstritten ist – und das ist jede Frage zum Geschlecht. Man kann nur zeigen, wie man zu seiner Meinung kam, wie auch immer sie ausfällt. Man kann seinen Zuhörerinnen nur die Möglichkeit geben, eigene Schlüsse zu ziehen, während sie die Grenzen, die Vorurteile und Idiosynkrasien der Rednerin im Blick haben. Hier enthält die Fiktion wahrscheinlich mehr Wahrheit als die Fakten. Deshalb schlage ich vor, Ihnen unter Ausnutzung aller Freiheiten und Rechte einer Romanschriftstellerin die Geschichte der zwei Tage zu erzählen, die meiner Ankunft hier vorausgingen – wie ich, niedergebeugt vom Gewicht des Themas, das Sie mir aufgeladen haben, darüber nachsann und es meinen Alltag durchdringen ließ. Ich brauche nicht zu sagen, dass das, was ich beschreiben werde, nicht existiert; Oxbridge ist eine Erfindung, genau wie Fernham; ich ist nur ein brauchbares Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt. Lügen werden über meine Lippen fließen, aber vielleicht hat sich ein bisschen Wahrheit daruntergemischt; es liegt an Ihnen, diese Wahrheit ausfindig zu machen und zu entscheiden, ob irgendetwas daran bewahrenswert ist. Wenn nicht, werden Sie das Ganze selbstverständlich in den Papierkorb werfen und völlig vergessen.
So also saß ich (nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder wie immer es Ihnen gefällt – das ist nicht von Bedeutung) vor ein oder zwei Wochen bei schönem Oktoberwetter gedankenversunken am Ufer eines Flusses. Das Joch, von dem ich sprach, Frauen und Literatur, das Bedürfnis, bei einem Thema, das alle möglichen Vorurteile und Leidenschaften aufruft, zu einem Schluss zu kommen, drückten mich nieder. Rechts und links irgendwelche Büsche, golden und purpurn, die Farbe ließ sie glühen, schienen sogar verbrannt in der Hitze, vom Feuer. Weiter unten am Ufer weinten die Weiden mit unaufhörlichem Gejammer, ihr Haar um die Schultern. Der Fluss spiegelte, was immer er von Himmel, Brücke und brennendem Baum auswählte, und als der Student sein Boot durch die Spiegelungen gerudert hatte, fügten sie sich wieder zusammen, so vollständig, als hätte es ihn nie gegeben. Dort hätte man rund um die Uhr so in Gedanken versunken sitzen können. Die Gedanken – um einen stolzeren Namen zu verwenden, als sie es verdienten – hatten ihre Angelschnur in den Strom hinuntergelassen. Sie schaukelte Minute um Minute zwischen den Spiegelungen und den Wasserpflanzen hin und her, ließ sich vom Wasser heben und senken, bis – Sie kennen das kleine Zupfen – plötzlich die Verdichtung einer Idee am Ende der Schnur: und dann das vorsichtige Einholen und sorgsame Auslegen? Ach, wie klein, wie unbedeutend mein Gedanke im Gras liegend aussah; die Sorte Fisch, die ein guter Angler zurück ins Wasser setzt, damit er fetter werden kann und es sich eines Tages lohnt, ihn zu kochen und zu essen. Ich werde Sie jetzt nicht mit diesem Gedanken belästigen, aber bei aufmerksamem Hinschauen könnten Sie im Laufe dessen, was ich sagen werde, selbst darauf stoßen.
Wie klein er auch war, besaß er doch die geheimnisvolle Eigenschaft, die dieser Sorte zu eigen ist – zurück in den Kopf gesetzt, wurde er sofort sehr aufregend und wichtig; und als er losschoss und abtauchte und hierhin und dorthin flitzte, löste er einen solchen Wirbel und Tumult an Ideen aus, dass es unmöglich war, stillzusitzen. So kam es, dass ich mich dabei ertappte, wie ich äußerst schnell über eine Grasfläche ging. Augenblicklich tauchte die Gestalt eines Mannes auf, um mich aufzuhalten. Zuerst verstand ich gar nicht, dass das Gestikulieren eines eigentümlich aussehenden Gebildes in Gehrock und Frackhemd mir galt. Sein Gesicht drückte Entsetzen und Empörung aus. Instinkt, eher als Vernunft, kam mir zu Hilfe; er war ein Pedell, ich war eine Frau. Hier war der Rasen, dort war der Weg. Hier sind nur die Fellows und Gelehrten zugelassen, mein Platz ist der Kies. Solche Gedanken entstehen im Augenblick. Als ich den Pfad wieder erreichte, ließ der Pedell die Arme sinken, in sein Gesicht kehrte die übliche Ruhe zurück, und obwohl es sich auf Rasen besser geht als auf Kies, war kein besonders großer Schaden entstanden. Das Einzige, was ich den welchem College auch immer angehörenden Fellows und Gelehrten vorzuwerfen hatte, war, dass sie zum Schutz ihres seit dreihundert Jahren unablässig gewalzten Rasens meinen kleinen Fisch vertrieben hatten.
An die Idee, die mich zu so kühner Übertretung veranlasst hatte, konnte ich mich jetzt nicht mehr erinnern. Der Geist des Friedens sank wie eine Wolke vom Himmel herab, denn wenn der Geist des Friedens irgendwo haust, dann in den Gebäuden und Innenhöfen von Oxbridge an einem schönen Oktobermorgen. Beim Schlendern zwischen jenen Colleges, vorbei an diesen uralten Hallen, schien die Rauheit der Gegenwart geglättet; der Körper schien in eine wundersame Glasvitrine eingeschlossen, die kein Laut durchdringen konnte, und der Geist, ohne jede Berührung mit der Wirklichkeit (es sei denn, man betrat noch einmal den Rasen), war frei, sich jeglicher Betrachtung hinzugeben, die mit dem Augenblick im Einklang stand. Wie der Zufall es wollte, brachte mir eine abseitige Erinnerung an einen alten Essay über ein Wiedersehen mit Oxbridge in den großen Ferien Charles Lamb in den Sinn – Saint Charles, sagte Thackeray und hielt sich einen Brief von Lamb an die Stirn. Tatsächlich, unter all den Toten (ich gebe Ihnen meine Gedanken so wieder, wie sie mir kamen) ist Lamb einer der angenehmsten; einer, den man gern gefragt hätte: Sagen Sie, wie haben Sie eigentlich Ihre Essays geschrieben? Denn seine Essays sind sogar denen von Max Beerbohm mit all ihrer Perfektion überlegen, dachte ich, weil es mittendrin dieses wilde Aufleuchten der Fantasie, das blitzartige Aufzucken der Genialität gibt, das sie mangelhaft und unvollkommen macht, aber mit funkelnder Poesie übersät.[2] Lamb kam also vor vielleicht hundert Jahren nach Oxbridge. Jedenfalls schrieb er einen Essay – der Titel ist mir entfallen – über die Handschrift eines Gedichts von Milton, die er hier fand. Vielleicht war es Lycidas, und Lamb schrieb, wie sehr ihn der Gedanke schockierte, irgendein Wort in Lycidas könnte zuvor anders gelautet haben als jetzt. Sich vorzustellen, Milton könnte Wörter in diesem Gedicht geändert haben, erschien ihm wie ein Sakrileg. Da erinnerte ich mich an das, was ich noch von Lycidas wusste, und stellte zu meinem eigenen Vergnügen Mutmaßungen darüber an, welches Wort Milton geändert haben könnte und warum. Dann fiel mir ein, dass genau dieselbe Handschrift, die Lamb sich angeschaut hatte, nur wenige Meter entfernt zu finden war, sodass man in