Ein Zimmer für sich allein. Virginia Woolf

Ein Zimmer für sich allein - Virginia Woolf


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und andere Frühlingsblumen beschreibe. Die Literatur muss sich an Tatsachen halten, und je wahrer die Tatsachen, desto besser die Literatur – wird uns gesagt. Deshalb war es immer noch Herbst, und die Blätter fielen immer noch gelb von den Bäumen, vielleicht etwas schneller als zuvor, weil es nun Abend war (sieben Uhr dreiundzwanzig, um genau zu sein), und ein Lüftchen (aus Südwest, um exakt zu sein) war aufgekommen. Aber trotz allem ging etwas Seltsames vor sich:

      Mein Herz ist wie ein Vogel heut’

      Dem dichtes Laub sein Nest umflicht;

      Mein Herz ist wie ein Apfelbaum,

      Dem jeder Ast von Früchten bricht

      Möglicherweise waren auch die Worte von Christina Rossetti für das verrückte Hirngespinst verantwortlich – denn natürlich war es nichts als ein Hirngespinst –, dass der Flieder seine Blüten über die Gartenmauern schüttelte und die Zitronenfalter hin und her jagten und die Luft voller Blütenstaub war. Ein Wind blies, aus welcher Gegend weiß ich nicht, aber er hob die halbwüchsigen Blätter an, sodass die Luft silbergrau aufblitzte. Es war die Stunde des Zwielichts, wenn die Farben sich wandeln und intensiver leuchten und wenn Violett und Gold auf Fensterscheiben brennen wie der Schlag eines erregbaren Herzens; wenn sich die Schönheit der Welt aus irgendeinem Grund offenbart und doch bald vergehen wird (hier betrat ich den Garten, denn die Tür stand unvorsichtigerweise offen, und kein Pedell war in Sicht), die Schönheit der Welt, die so schnell vergehen wird, ist zweischneidig, eine Schneide des Lachens und eine des Leidens teilen das Herz entzwei. Die Gärten von Fernham lagen vor mir im Zwielicht des Frühlings, wild und offen, und das hohe Gras war gesprenkelt von sorglos verstreuten Narzissen und Glockenhyazinthen, selbst zu den besten Zeiten vielleicht nicht geordnet, jetzt aber wogten sie windzerzaust, während sie da an ihren Wurzeln zerrten. Die Fenster des Gebäudes, rund wie Schiffsfenster zwischen üppigen Wellen aus roten Ziegelsteinen, wechselten die Farbe von Zitronengelb zu Silber unter den schnell vorüberziehenden Frühlingswolken. Jemand lag in einer Hängematte, jemand, aber in diesem Licht waren alle nur Schatten, halb erahnt, halb gesehen, raste über das Gras – hielt niemand sie auf? –, und dann auf der Terrasse, als wäre sie herausgekommen, um Luft zu holen, einen Blick in den Garten zu werfen, erschien eine gebeugte Gestalt, Respekt einflößend und doch bescheiden, mit ihrer hohen Stirn und ihrem schäbigen Kleid – konnte es die berühmte Gelehrte, konnte es J– H– [5] selbst sein? Alles war schummrig, leuchtete dennoch, als würde der Schal, den die Dämmerung über den Garten geworfen hatte, zerrissen von Stern oder Schwert – der Blitz einer schrecklichen Wirklichkeit zuckte, wie es seine Art ist, aus dem Herzen des Frühlings auf. Denn die Jugend –

      Da kam meine Suppe. In der großen Mensa wurde das Dinner serviert. Es war keineswegs Frühling, sondern tatsächlich ein Abend im Oktober. Man hatte sich im Speisesaal versammelt. Das Essen war zubereitet. Da kam die Suppe. Es war eine einfache Brühe. Darin war nichts, was die Fantasie anregte. In der durchsichtigen Flüssigkeit hätte man jegliches Muster auf dem Teller sehen können. Aber es gab kein Muster. Der Teller war schlicht. Als Nächstes kam Rindfleisch, begleitet von Gemüse und Kartoffeln – eine anspruchslose Dreifaltigkeit, die an die Hinterteile von Vieh auf einem schlammigen Markt denken ließ und an Rosenkohl, welk und gelb an den Rändern, und an Feilschen und Sonderangebote und Frauen mit Einkaufsnetzen am Montagmorgen. Es gab keinen Grund, sich über diese alltägliche menschliche Nahrung zu beschweren, schließlich war genug davon da, und Bergarbeiter hatten zweifellos weniger auf dem Tisch. Backpflaumen und Vanillepudding folgten. Und sollte sich jemand darüber beschweren, dass Backpflaumen, selbst wenn Vanillepudding sie milder macht, ein unbarmherziges Gemüse sind (Obst sind sie nicht), faserig wie das Herz eines Geizhalses und eine Flüssigkeit absondernd, wie sie Geizhälsen durch die Adern fließen mag, die sich achtzig Jahre lang Wein und Wärme versagt und trotzdem den Armen nichts gespendet haben, dann sollte er daran denken, dass es Menschen gibt, deren Barmherzigkeit sogar die Backpflaume einschließt. Cracker und Käse kamen als Nächstes, und dazu wurde der Wasserkrug großzügig herumgereicht, denn es liegt in der Natur von Crackern, dass sie trocken sind, und mehr Cracker als diese ging nicht. Das war alles. Die Mahlzeit war beendet. Alle schoben scharrend ihre Stühle zurück, die Schwingtüren schwangen heftig hin und her, bald war jede Spur des Essens aus dem Saal getilgt, und er wurde zweifelsohne für das Frühstück am nächsten Morgen vorbereitet. Die Korridore hinab und die Treppen hinauf zog die Jugend von England mit Knall und Gesang. Und stand es einem Gast, einer Fremden zu (denn ich besaß hier in Fernham nicht mehr Rechte als in Trinity oder Somerville oder Girton oder Newnham oder Christchurch), zu sagen ›Das Dinner war nicht gut‹, oder zu sagen (wir, Mary Seton und ich, waren jetzt in ihrem Wohnzimmer): ›Hätten wir nicht hier oben allein essen können?‹, denn hätte ich irgendetwas in dieser Richtung gesagt, hätte ich meine Nase neugierig in die geheimen Sparmaßnahmen eines Hauses gesteckt, das für die Fremde eine so schöne Fassade aus Frohsinn und Mut angelegt hat. Nein, man konnte nichts Derartiges sagen. Allerdings kam das Gespräch für einen Moment ins Stocken. So, wie der Mensch beschaffen ist, Herz, Körper und Gehirn miteinander verknüpft und nicht in getrennten Abteilungen untergebracht, wie es in einer Million Jahren zweifellos der Fall sein wird, ist ein gutes Dinner eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Gespräch. Man kann nicht gut denken, gut lieben, gut schlafen, wenn man nicht gut gegessen hat. Das Licht in der Wirbelsäule leuchtet nicht mit Rind und Backpflaumen. Wir kommen wahrscheinlich alle in den Himmel, und van Dyck wird uns hoffentlich an der nächsten Ecke treffen – das ist der zweifelhafte und beschränkte geistige Zustand, den Rind und Backpflaumen am Ende des Arbeitstages ausbrüten. Glücklicherweise hatte meine Freundin, die Naturwissenschaften lehrte, einen Schrank, in dem es eine dickbauchige Flasche und kleine Gläser gab – (aber erst mal hätte es Seezunge und Rebhuhn geben sollen) –, sodass wir uns ans Feuer begeben und einige der Schäden dieses Arbeitstages beheben konnten. Nach etwa einer Minute umkreisten wir ungezwungen all jene Gegenstände der Neugier und des Interesses, die sich in Abwesenheit einer bestimmten Person im Geiste formen und natürlich diskutiert werden müssen, sobald man sich wiedersieht – dass jemand geheiratet hat, ein anderer nicht, der eine denkt dies, der andere jenes, aus dem einen ist ganz unerwartet etwas geworden, der andere ist erstaunlicherweise auf die schiefe Bahn geraten –, inklusive all der Mutmaßungen über die menschliche Natur und die Beschaffenheit dieser erstaunlichen Welt, in der wir leben, die sich auf natürliche Weise aus solchen Gesprächsanfängen ergeben. Während alle diese Dinge besprochen wurden, bemerkte ich beschämenderweise eine Strömung, die ganz von selbst einsetzte und alles einem ganz eigenen Ziel zutrug. Man mochte von Spanien oder Portugal sprechen, von Buch oder Rennpferd, aber das eigentliche Interesse an dem, was gesagt wurde, galt keinem dieser Dinge, sondern einer Szene mit Maurern auf einem hohen Dach vor etwa fünfhundert Jahren. Könige und Fürsten brachten Schätze in riesigen Säcken und schütteten sie unter die Erde. Diese Szene stand mir immer wieder lebhaft vor Augen und fügte sich neben eine andere mit mageren Kühen und einem schlammigen Markt und welkem Gemüse und den faserigen Herzen alter Männer – diese beiden Bilder, so zusammenhanglos, unverbunden und unsinnig sie waren, trafen für immer zusammen und bekämpften einander und hatten mich ganz in ihrer Gewalt. Um nicht das ganze Gespräch zu ruinieren, war es am besten, das, was mir durch den Kopf ging, an die Luft zu lassen, wo es, wenn ich Glück hatte, verblassen und zerbröseln würde wie der Kopf des toten Königs, als sie den Sarg in Windsor öffneten. In wenigen Worten also erzählte ich Miss Seton von den Maurern, die all diese Jahre auf dem Dach der Kirche gewesen waren, und von den Königen und Königinnen und Fürsten, die Säcke mit Gold und Silber auf den Schultern trugen, das sie in die Erde schaufelten, und wie dann die großen Finanzmagnaten unserer Zeit kamen und Schecks und Pfandbriefe vermutlich eben dort hineinsteckten, wo die anderen Barren und rohe Goldklumpen hineingesteckt hatten. All das liegt dort unter den Colleges, sagte ich, aber in diesem College, in dem wir gerade sitzen, was liegt da unter den stattlichen roten Ziegeln und dem wilden, struppigen Gras des Gartens? Welche Macht steht hinter dem schlichten Porzellan, von dem wir zu Abend aßen und (es kam mir über die Lippen, bevor ich es zurückhalten konnte) dem Rind, dem Pudding und den Backpflaumen?

      Tja, sagte Mary Seton, etwa im Jahr 1860 – Ach, aber die Geschichte kennst du doch, sagte sie, vermutlich von dem Vortrag gelangweilt. Und sie erzählte mir – Zimmer wurden angemietet. Gremien traten zusammen. Briefumschläge wurden adressiert. Rundschreiben wurden aufgesetzt. Versammlungen wurden abgehalten; Briefe wurden vorgelesen; Soundso hat


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