Ein Zimmer für sich allein. Virginia Woolf
Sie bitten, sich ein Zimmer vorzustellen, wie es Tausende gibt, mit einem Fenster, das über die Hüte der Menschen und die Lieferwagen und Autos hinweg zu anderen Fenstern hinausgeht, und sich auf einem Tisch in diesem Zimmer ein leeres Blatt Papier vorzustellen, auf dem in Großbuchstaben FRAUEN UND LITERATUR stand und sonst nichts. Als Nachspiel zu den Lunches und Dinners in Oxbridge schien ein Besuch im British Museum leider unvermeidlich zu sein. Es galt, alles Persönliche und Zufällige an diesen Eindrücken herauszufiltern, um die reine Flüssigkeit zu erhalten, das ätherische Öl der Wahrheit. Denn der Besuch in Oxbridge und das Mittag- und Abendessen hatten einen Schwarm von Fragen ausgelöst. Warum tranken Männer Wein und Frauen Wasser? Warum war das eine Geschlecht so wohlhabend und das andere so arm? Welche Wirkung hat Armut auf die Literatur? Welche Voraussetzungen sind zur Erschaffung von Kunstwerken nötig? – sofort drängten sich Tausende von Fragen auf. Aber man brauchte Antworten, keine Fragen; und eine Antwort war nur durch Hinzuziehen der Gebildeten und Unvoreingenommenen zu bekommen, die sich über den Zank der Zunge und das Chaos des Körpers erhoben und das Ergebnis ihres Denkens und Forschens in Büchern veröffentlicht haben, die im British Museum zu finden sind. Wo, wenn nicht in den Regalen des British Museum, ist die Wahrheit zu finden?, fragte ich mich und griff zu Notizbuch und Stift.
Derart ausgerüstet, derart zuversichtlich und wissensdurstig machte ich mich auf die Suche nach der Wahrheit. Der Tag, obwohl nicht wirklich regnerisch, war trist, und die Straßen rings um das Museum waren voller offener Kohlenschächte, in die säckeweise Kohle prasselte; vierrädrige Droschken fuhren vor und luden auf dem Gehweg verschnürte Kisten mit wahrscheinlich der gesamten Garderobe irgendeiner schweizerischen oder italienischen Familie ab, die auf der Suche nach Glück oder Zuflucht oder einer anderen begehrenswerten Sache war, die im Winter in den Pensionen von Bloomsbury zu finden ist. Die üblichen Männer mit den heiseren Stimmen zogen mit pflanzenbeladenen Karren durch die Straßen. Die einen brüllten, die anderen sangen. London war wie eine Fabrikhalle. London war wie eine Maschine. Wir alle wurden auf diesem einfachen Fundament hin und her geschoben, um eine Art Muster zu erzeugen. Das British Museum war nur ein weiterer Teil der Fabrik. Die Schwingen der Tür schwangen auf, und schon stand man unter der gewaltigen Kuppel, als wäre man ein Gedanke hinter der riesigen kahlen Stirn, die ein so glänzendes Band berühmter Namen trägt. Man ging zum Schalter, man nahm sich einen Zettel, man schlug einen Katalog auf und .…. die fünf Punkte hier stehen für fünf einzelne Minuten der Benommenheit, des Staunens und der Verwirrung. Haben Sie auch nur eine Ahnung, wie viele Bücher im Laufe eines Jahres über Frauen geschrieben werden? Haben Sie eine Ahnung, wie viele davon Männer geschrieben haben? Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie wahrscheinlich das meistdiskutierte Tier im gesamten Universum sind? Da war ich mit Notizbuch und Stift und dem Vorhaben hierhergekommen, den Vormittag lesend zu verbringen, in der Annahme, am Ende des Vormittags die Wahrheit in mein Notizbuch übertragen zu haben. Aber ich müsste eine Herde Elefanten sein, dachte ich, und eine Wildnis voller Spinnen, mich verzweifelt an jene Tiere haltend, die angeblich das längste Leben und die meisten Augen haben, um all das zu bewältigen. Ich bräuchte Klauen aus Stahl und einen Metallschnabel, um auch nur die Schale durchdringen zu können. Wie soll ich in diesen Massen von Papier je das Körnchen Wahrheit finden? Das fragte ich mich, während mein Blick verzweifelt die lange Liste der Bücher auf und ab wanderte. Schon die Titel gaben mir zu denken. Das Geschlecht und seine Natur mag sehr wohl Ärzte und Biologen anziehen, was aber überraschend und schwer erklärbar war, war die Tatsache, dass das Geschlecht – das heißt, die Frau – auch artige Essayisten anzieht, ausgefuchste Romanciers, junge Männer, die einen Studienabschluss haben, Männer, die keinen Studienabschluss haben, Männer, die keine erkennbare Qualifikation haben außer der, dass sie keine Frauen sind. Einige dieser Bücher waren dem Anschein nach belanglos und bizarr, aber demgegenüber gab es viele ernste und prophetische, moralisierende und mahnende. Schon die Lektüre der Titel ließ einen daran denken, wie unzählige Schulmeister, unzählige Kleriker ihre Plattformen und Kanzeln erklommen und in einer Redseligkeit dozierten, die weit über die normalerweise einer Abhandlung zu einem solchen Thema zugestandene Stunde hinausging. Es war ein äußerst merkwürdiges Phänomen; und offenbar – hier schlug ich unter dem Buchstaben M nach – eines, das sich auf das männliche Geschlecht beschränkte. Frauen schrieben keine Bücher über Männer – eine Tatsache, die ich nicht umhinkonnte, erleichtert zu begrüßen, denn wenn ich zuerst alles hätte lesen sollen, was Männer über Frauen, und dann alles, was Frauen über Männer geschrieben haben, hätte die Aloe, die nur einmal alle hundert Jahre blüht, zweimal geblüht, ehe ich auch nur den Stift aufs Papier gesetzt hätte. Und so wählte ich vollkommen willkürlich etwa ein Dutzend Bände aus, gab meine Zettel für den Drahtkorb ab und wartete an meinem Platz, inmitten all der anderen, die auf der Suche nach dem ätherischen Öl der Wahrheit waren.
Was aber könnte der Grund für dieses merkwürdige Missverhältnis sein, fragte ich mich und zeichnete Wagenräder auf die vom britischen Steuerzahler für andere Zwecke zur Verfügung gestellten Zettel. Warum sind Frauen, diesem Katalog nach zu urteilen, für Männer so viel interessanter als Männer für Frauen? Eine sehr merkwürdige Sache, so schien es, und in Gedanken stellte ich mir das Leben von Männern vor, die ihre Zeit damit verbrachten, über Frauen zu schreiben; ob sie alt oder jung waren, verheiratet oder unverheiratet, rotnasig oder bucklig – in jedem Fall war es schmeichelhaft, irgendwie, Gegenstand einer solchen Aufmerksamkeit zu sein, vorausgesetzt, sie wurde einem nicht ausschließlich von Gelähmten und Gebrechlichen zuteil – so grübelte ich, bis all diese albernen Gedanken durch eine Bücherlawine beendet wurden, die auf den Schreibtisch vor mir niederging. Hier begannen die Probleme. Der Student, der in Oxbridge für die Forschung ausgebildet wurde, verfügt sicherlich über eine Methode, seine Frage an allen Zerstreuungen vorbeizutreiben, bis sie in eine Antwort findet wie ein Schaf in seinen Pferch. Der Student neben mir beispielsweise, der emsig aus einem wissenschaftlichen Handbuch abschrieb, förderte, da war ich sicher, etwa alle zehn Minuten reine Klumpen des edlen Erzes zutage. Davon kündeten jedenfalls seine kleinen zufriedenen Grunzer. Wenn man aber bedauerlicherweise keine Universitätsausbildung genossen hat, stiebt die Frage, weit entfernt davon, in ihren Pferch getrieben zu werden, wie eine erschreckte Herde hierhin und dorthin, holterdiepolter, verfolgt von einer ganzen Hundemeute. Professoren, Lehrmeister, Soziologen, Kleriker, Romanciers, Essayisten, Journalisten, Männer, die keine Qualifikation haben, außer, dass sie keine Frauen sind, verfolgten meine eine einfache Frage – Warum sind Frauen arm? –, bis daraus fünfzig Fragen wurden; bis die fünfzig Fragen sich verzweifelt in die Mitte des Stroms stürzten und davongetragen wurden. Jede Seite meines Notizbuchs war vollgekritzelt. Um Ihnen meinen geistigen Zustand zu verdeutlichen, werde ich Ihnen einige Notizen vorlesen, wobei Sie wissen müssen, dass die Seite ganz schlicht mit FRAUEN UND ARMUT in Großbuchstaben überschrieben war; aber was folgte, war etwas wie:
Lebensverhältnisse im Mittelalter der,
Gewohnheiten auf den Fidschi-Inseln der,
Angebetet als Göttinnen von,
Schwächer in moralischer Hinsicht als,
Idealismus der,
Größeres Pflichtgefühl der,
Südseeinsulanerinnen, Beginn der Pubertät der,
Attraktivität der,
Als Opfer dargebracht von,
Kleinerer Gehirnumfang der,
Tieferes Unterbewusstsein der,
Weniger Körperbehaarung der,
Mentale, moralische und physische Unterlegenheit von,
Kinderliebe der,
Höhere Lebenserwartung der,
Weniger Muskelmasse der,
Stärke der Liebesfähigkeit der,
Eitelkeit der,
Höhere Bildung der,
Shakespeares Meinung über die,
Lord Birkenheads Meinung über die,
Dean Inges Meinung über die,
La Bruyères Meinung über die,
Dr. Johnsons Meinung über die,
Mr Oscar Brownings Meinung über