Notarzt Dr. Winter 7 – Arztroman. Nina Kayser-Darius
was sie von mir halten sollten – aber zum Glück bin ich mit den Patienten gut klargekommen, und jetzt hat sich die ganze Aufregung gelegt. Das wird bei Ihnen auch so sein. Sobald der nächste neue Arzt auftaucht, wenden sich alle von Ihnen ab und dem Neuen zu. So ist das nun mal.«
Ihr Charme und ihre Natürlichkeit entzückten ihn. »Danke«, erwiderte er ernsthaft, »daß Sie mir das erklärt haben. Jetzt kann ich sicher leichter damit umgehen. Ich habe mich nämlich schon gefragt, ob ich etwas Merkwürdiges an mir habe, weil mir die Blicke aufgefallen sind, mit denen ich betrachtet werde.«
»Gar nicht drum kümmern!« riet sie. »Das geht vorbei, glauben Sie mir. Aber nun erzählen Sie mir bitte etwas über Südafrika. Und darüber, wie Sie dort leben!«
Das tat er nur zu gern. Was konnte es Angenehmeres geben, als mit einer schönen Frau auf der Dachterrasse eines eleganten Hotels in Berlin zu sitzen und ihr von der geliebten Heimat zu erzählen, während sie mit großen Augen aufmerksam zuhörte?
*
Stefanie Wagner sah auf die Uhr und seufzte. Schon wieder so spät! Dabei hatte sie heute eigentlich ausnahmsweise einmal früh nach Hause gehen wollen, aber das Hotel fraß sie einfach auf. Sie mußte wirklich aufpassen, daß es sie nicht mit Haut und Haaren verschlang. Doch das Problem war, daß sie ihre Arbeit liebte – sie liebte das King’s Palace, sie liebte die Hektik, die jeder Tag mit sich brachte, und vor allem liebte sie es, Probleme zu lösen, die eigentlich als unlösbar betrachtet wurden.
Vielleicht lag es an dieser besonderen Fähigkeit, daß Andreas Wingensiefen, der Direktor des Hotels, sie immer selbständiger arbeiten ließ. Längst galt sie als heimliche Chefin des King’s Palace, aber sie benahm sich nicht so, und deshalb liebten die Angestellten sie. Stefanie Wagner arbeitete härter als jeder andere im Hotel, und sie hatte für alle ein offenes Ohr.
Sie hatte eigentlich damit gerechnet, daß Tim Brown, den sie von früher her kannte, sich noch einmal melden würde, aber er war wahrscheinlich in der Klinik aufgehalten worden. Als sie gehört hatte, daß er ausgerechnet an jener Klinik für ein Jahr arbeiten würde, an der auch Adrian Winter arbeitete, hatte sie sich zunächst sehr gefreut. Vielleicht würde ihr Kontakt zu dem Arzt auf diese Weise endlich etwas enger werden als bisher. Aber das schien ein Trugschluß gewesen zu sein. Sie hatte Adrian Winter, so kam es ihr zumindest vor, schon ewig lange nicht mehr gesehen. Dabei war er der einzige Mann, für den sie sich überhaupt interessierte.
Wieder seufzte sie. Ihr ehemaliger Freund Oliver Mahnert hatte noch immer nicht verstanden, daß es zwischen ihnen beiden endgültig aus war. Ständig rief er sie an und wollte mit ihr ausgehen. Manchmal gab sie nach und begleitete ihn, aber hinterher schwor sie sich immer, daß es das letzte Mal gewesen sei. Er war lieb, daran gab es keinen Zweifel, aber er langweilte sie.
Sie stand auf, strich sich die langen blonden Locken nach hinten, sah in einem kleinen Spiegel nach, ob ihr Make-up noch in Ordnung war, und verließ ihr Büro. Aber als sie vor dem Aufzug stand, kam ihr der Gedanke, noch kurz nach oben zu fahren und den Blick von der Dachterrasse auf das nächtliche Berlin zu genießen.
Das tat sie dann auch, und so kam es, daß sie gleich darauf Tim Brown im Gespräch mit einer attraktiven Blondine sah.
Amüsiert dachte sie: Kein Wunder, daß er vergißt, mich anzurufen, wenn er etwas Besseres zu tun hat. Sie verzichtete auf den Blick über die Stadt und fuhr wieder nach unten. Tim konnte jetzt keine Störung gebrauchen, das hatte sie sofort gesehen.
*
Adrian Winter schlief bis in den Nachmittag hinein. Zum Glück hatte er jetzt keinen Nachtdienst mehr. Vor ihm lag ein freies Wochenende, und danach würde er erst einmal wieder tagsüber arbeiten. Das Wetter war schön, und so sprang er voller Tatendrang aus dem Bett. Er war mit seiner Zwillingsschwester verabredet für diesen Abend, und vorher hatte er noch einiges zu erledigen.
Als er wenig später seine Wohnung verließ, zögerte er und klingelte kurz entschlossen bei seiner Nachbarin Carola Senftleben. Von drinnen hörte er Husten, sonst nichts, und das beunruhigte ihn. »Frau Senftleben?« rief er. »Ich gehe einkaufen, soll ich Ihnen etwas mitbringen?«
Das war ein ungewöhnliches Angebot von seiner Seite. Normalerweise war es nämlich so, daß eher seine Nachbarin für ihn sorgte als umgekehrt. Die zierliche, überaus energiegeladene Frau Senftleben ging zwar auf die siebzig zu, aber das sah man ihr nicht an. Sie war eine großartige Köchin, und es hatte sich so eingespielt, daß sie oft für Adrian mitkochte, der sich das nur allzu gern gefallen ließ. Wenn er sie fragte, wie er sich bei ihr revanchieren könnte für das, was sie für ihn tat, lachte sie ihn nur aus.
»Ich koche gern, Adrian«, sagte sie dann immer. »Und ich esse lieber in Gesellschaft als allein. Also, wo ist das Problem? Wollen Sie vielleicht lieber allein essen?«
Nein, das wollte er natürlich nicht, und so hatte er das Thema schon länger nicht mehr angeschnitten. Aber natürlich konnte er ihr mal ein paar Einkäufe abnehmen, wenn seine karge Freizeit das erlaubte.
Jetzt hörte er langsame, fast schlurfende Schritte, und auch das war höchst ungewöhnlich. Frau Senftleben lief sonst leicht und schnellfüßig. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und Adrian rief entsetzt: »Frau Senftleben, was ist denn mit Ihnen los?«
»Krank!« krächzte seine sonst so muntere Nachbarin. Ihre unschuldigen blauen Augen, die schon so manchen zu einem falschen Urteil über sie verleitet hatten, glänzten nicht wie gewöhnlich, sondern ihr Blick war trüb, und ihre sonst so schönen grauen Haare, die sie kurz und glatt trug, was ihr sehr gut stand, klebten ihr am Kopf. Außerdem konnte sie sich ganz offensichtlich kaum auf den Beinen halten.
Er hatte die Situation mit einem Blick erfaßt und sagte nichts, sondern betrat ihre Wohnung, schloß die Tür hinter sich, nahm ihren Arm und führte sie vorsichtig zurück in ihr Schlafzimmer. Dort untersuchte er sie und sagte streng: »Sie haben eine böse Grippe, Frau Senftleben! Wie lange geht es Ihnen schon so schlecht?«
»Paar Tage«, murmelte sie.
Siedendheiß fiel ihm ein, daß er sie, was selten genug vorkam, seit vier Tagen nicht gesehen hatte – wegen seines Nachtdienstes. Er war ja abends, wenn sie gewöhnlich gemeinsam aßen, nicht zu Hause gewesen. Carola Senftleben war eine Nachteule, sie blieb die halbe Nacht wach und schlief bis in den späten Vormittag. Und er selbst hatte in der vergangenen Woche bis nachmittags geschlafen und dann jedesmal schon bald das Haus verlassen.
Warum hatte er nicht vorher schon einmal bei ihr geklingelt, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen?
»Ich hatte Nachtdienst!« sagte er zerknirscht.
»Weiß ich doch«, kam die leise Antwort. »Geht bald… besser.«
»Sie hätten mir Bescheid sagen müssen!« schimpfte er. »So geht das nicht, Frau Senftleben! Zu einer guten Nachbarschaft gehört auch, daß man um Hilfe bittet, wenn man sie braucht!«
»Nicht schimpfen«, bat sie matt.
Seine Stimme wurde sofort sanft und liebevoll. Er hatte seine Nachbarin sehr gern, und sie hatte ihm einen richtigen Schrecken eingejagt. Nur deshalb war er so außer sich geraten. »Ich schimpfe ja gar nicht. Ich lasse Sie jetzt ein paar Minuten allein, weil ich ein paar Medikamente holen muß. Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen? Und was?«
Sie dachte nach und sagte schließlich: »Stück Brot… heute morgen.«
»Gut, dann weiß ich Bescheid. Bis gleich.«
Er stürzte aus der Wohnung, rief seine Schwester an und erklärte ihr hastig die Lage. Sie versprach, abends vorbeizukommen und ihm zu helfen.
Dann suchte er die notwendigen Medikamente zusammen und machte eine heiße Brühe mit Hilfe eines Brühwürfels. Er wußte, daß Frau Senftleben niemals Brühwürfel benutzen würde und normalerweise strikt abgelehnt hätte, ›so etwas‹ zu sich zu nehmen. Aber er hatte keine Zeit, jetzt sofort eine richtige Rinderbrühe zu kochen. Für dieses Mal mußte es eben so gehen.
Seine Einkäufe verschob er, und wenige Minuten später betrat er die Wohnung seiner Nachbarin erneut.