Den Oridongo hinauf. Ingvar Ambjørnsen

Den Oridongo hinauf - Ingvar Ambjørnsen


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      »Es gibt also nur diese kleine Idee, die sich in Ellens Kopf festgesetzt hat«, sagt sie jetzt. »Und dass es vielleicht für viele von denen, die ihr ganzes Leben hier oben verbracht haben, interessant sein könnte, ein wenig darüber zu hören, wie jemand, der von außen kommt, diese Gemeinschaft erlebt.«

      Ich lege ihr vorsichtig die Hand auf den Oberschenkel. »Ich glaube, das kann leicht zu privat werden.«

      »Dass kann doch nicht passieren, wenn sie die Fragen stellt, oder? Sie ist doch meine beste Freundin!«

      Ich lasse mich zurücksinken und schließe die Augen. Ihr Zeigefinger verschwindet. So sitze ich da und spüre ihre Wärme, und denke, dass es einfach unmöglich ist, ihr für längere Zeit böse zu sein. Das geht nicht. Und wenn ich mir die Sache richtig gut überlege, kann ich dieses Gespräch zwischen zwei Frauen über mich dort im Laden durchaus auch in positivem Licht sehen. Zuerst die Idee, die Ellen kommt, als sie zu Hause ist und mit ihrer Arbeit herumpusselt. Mit wem könnte man in aller Öffentlichkeit ein interessantes Gespräch führen? Wer könnte bei einem Treffen im Gemeindehaus Licht auf die Probleme werfen, mit denen ein Neuling konfrontiert wird, wenn er sich hier auf Vaksøy niederlässt? Und da meldet sich in ihr mein Name mit großer Selbstverständlichkeit zu Wort. Ulf Vågsvik. In Ulf Vågsvik hat sie einen möglichen Gesprächspartner – nicht nur über Probleme und Nachteile, sondern auch über die vielen Vorzüge, die die Insel im Vergleich zum hektischen Großstadtleben eben zu bieten hat. Denn ich habe in den beiden Jahren, in denen ich nun hier oben wohne, nicht an Munition gespart. Sie, und viele andere, wissen genau, wo mein Herz vor Anker gegangen ist. Eine vor allem negativ geladene Person auf die Bühne des Gemeindehauses zu schleppen, würde das Fiasko garantieren. Das können wir nicht zulassen. Aber bei mir kann sie sich sicher fühlen. Ich könnte vielleicht einige humorvolle Bemerkungen über das stillgelegte Hallenbad und die geschlossene Bücherei machen, aber das wäre wohl auch alles. Ich sehne mich nicht weg von hier. Ich tausche gern Chlorwasser und verstaubte Bücher gegen sauberes Meer und hohen Himmel ein. Ich könnte einige scharfe Bemerkungen über die blödsinnige Weise machen, in der norwegisches Dorfleben in Literatur und Film oft dargestellt wird. Die würdelosen Klischees. Ich meine: Haben wir hier oben mehr als einen Reinert von Neset? Mehr als einen Bendik Haga? Nein. Haben wir nicht! Und ich muss doch ein wenig lachen, als ich mir die beiden erwähnten Herren vorstelle, während ihre Namen aus meinem Mund kullern. Ehe ich mit irgendeiner selbstironischen Bemerkung allem den Stachel abbreche. Von meinem Spaziergang am Strand am Tag meiner Ankunft erzähle, zum Beispiel. Meinen ersten Fahrversuchen auf Magnes Dreirad. Hier oben gibt es vermutlich auch nur einen Ulf Vågsvik.

      Aber wäre nämlicher Vågsvik bereit zu diesem öffentlichen Interview? Bereit, mit einem Glas Rotwein oben auf der Bühne zu sitzen und sich an einem Gespräch über Vaksøys Vorzüge und Mängel zu beteiligen? Davon hat Ellen Svendsen doch keine Ahnung. Deshalb ist es vielleicht doch kein Wunder, dass sie die Gelegenheit nutzt, als sie Berit begegnet, der Person, die Ulf Vågsvik unbedingt am besten kennt. Dass sie die Idee zuerst ihr gegenüber zur Sprache bringt.

      Dennoch stimmt hier irgendwo etwas nicht, wenn es also zutrifft, dass Berit sofort, vielleicht sogar mit großer Überzeugung, behauptet, sich einfach nicht vorstellen zu können, dass ich zu so etwas bereit wäre.

      Jedenfalls fragt Ellen mich am nächsten Tag ja doch.

      Und ich denke: Warum konnte ich nicht einfach sagen, dass ich mir die Sache erst überlegen müsste? Und musste ich denn wirklich auf den Hof hinausstürzen?

      Also sage ich jetzt zu Berit, dass ich ein paar Runden mit mir selbst drehen muss, dass ich aber die Anfrage, die Ellen an mich hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach mit ja beantworten werde.

       4

      Ich bin in deine Fußstapfen getreten, dort, wo du den Pfad verlassen hast, Magne, so war das. Daran denke ich jedesmal, wenn ich auf den Gang hinausgehe und deine Windjacke anziehe, die noch immer, Jahre, nachdem du von uns gegangen bist, nach Drehtabak und Wald riecht, und ich denke auch sonst oft daran, daran, dass ich da weitergemacht habe, wo du passen musstest. Und niemand weiß und niemand soll es jemals erfahren, dass ich immer wieder diese Gespräche mit dir führe, genauer gesagt, dass ich hier mit dir spreche, während ich zugleich auf die Stille des Todes lausche. Aber das ist eine geladene Stille, wie dann, wenn man in der vollkommenen Dunkelheit dasteht und die Nähe eines anderen spürt, ich glaube, dich nahe bei der Grenze der Lebenden zu ahnen, und manchmal, zum Beispiel, wenn ich deine Jacke anziehe, habe ich das Gefühl, dich zugleich über die Grenze und hinein ins Leben zu ziehen. Dann scheint ein Teil von mir zu dir zu werden, und zusammen gehen wir die Treppe hoch, wie jetzt, wir schieben einen Priem ein und überqueren den Hofplatz, und meine Hand ist fremd und vertraut zugleich, wenn die Finger den alten gelben Schalter draußen im Holzschuppen umlegen und das scharfe Licht über den Holzhaufen fällt, den Reinert von Neset gebracht hat, den er vom Lastwagen geschoben hat, das Holz, das du und ich, zwei Hände, gleich stapeln werden. Und bei dieser Arbeit bin ich ganz und gar bei dir, so, wie du auch hier bei mir bist, wir sind in Dem Einen, dem verschlossenen Raum, der nur für uns wirklich ist, und den ich deshalb auch ihr gegenüber verschweige, ja, gerade ihr gegenüber, denn das könnte Unruhe erregen. Und die Holzscheite sollen dicht und gleichmäßig liegen, wie wir das ohne Worte oder Gebärden beschlossen haben, es ist einfach so, dass wir mit vorsichtigen Hammerschlägen bei jeder zweiten Reihe, die wir legen, die Platzierung jedes einzelnen Holzscheites korrigieren, nicht nach der ersten Reihe oder zum Beispiel, wenn die dritte Reihe gelegt ist, sondern nach der zweiten. Ich weiß, dass du nicht gewollt hast, dass sie hier oben allein wäre. Sie hat mir alles erzählt, was du darüber gesagt hast. Zuerst in den Briefen, die ich bekommen habe, als ich den Oridongo hinauffuhr, später am Küchentisch in der Dämmerstunde, sie hat gesagt und geschrieben, dass du es so gewollt hättest, und ich habe gedacht und gespürt, dass es der Wille eines starken und großzügigen Mannes ist, in den ich auf seltsame Weise hineingezogen worden bin, es lag voll und ganz außerhalb meiner Fassenskraft, dass so etwas passieren könnte. Aber du hast diese Möglichkeit erfasst, als du spürtest, wie deine Kräfte aus dir heraus und in etwas anderes hineinsickerten, du hast meine Anwesenheit irgendwo dort draußen gespürt, ohne Namen und ohne Gesicht, und das passte mir doch nur zu gut, wo ich dabei war, mich von beidem zu befreien, an einem anderen Ort ein anderer zu werden. Und wie ich dir schon so oft erzählt, nein, dir anvertraut habe, so habe ich mich auch ihr anvertraut: Ich hatte mich schon längst damit abgefunden, den Rest des Weges allein gehen zu müssen, in mir gab es keinen Traum mehr von einer Frau aus Fleisch und Blut.

      Ich arbeite bis kurz nach neun. Es ist ganz dunkel draußen, als ich die Tür des Holzschuppens hinter mir schließe. Nur das Hoflicht über den ausgetretenen Treppenstufen, das große Stück Mauer, Zement und Muschelkalk. Und es ist so still, nein, es ist nicht still, denn hier sind Wind und Meer, die Wellen, die schlagen; kann man sagen, dass die Stille so klingt? Irgendwo habe ich gelesen, dass die Toten im Wind leben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmen kann, aber wenn ich mir die Kapuze über den Kopf ziehe, ist es dennoch ein verlockender Gedanke, eben, dass die Toten, meine Ahnen und du, mir hier über den glatten Schädel streichen, über die nackte Haut, und hussa, wie der Nordwind weiter die Küste hochjagt, die Toten jagen die Toten, ein gewaltiges Spiel!

      Wieder sehe ich den Saal im Gemeindehaus drüben in Laugen vor mir. Wie er sich langsam füllt. Die Autos, die auf den Parkplatz fahren. Die Abgase über den roten Bremslichtern. Alle, die zu Fuß kommen, allein oder in kleinen Gruppen. Sie sind Schatten in der Dunkelheit, aber wenn sie ins Licht und den Dampf des frisch aufgebrühten Kaffees treten, bekommen sie Gesichter und Namen, ich kann sie erkennen, und offenbar erkennen sie auch mich, als ich hier mit einer Tasse Kaffee bei Ellen Svendsen stehe, möglicherweise mit einem Glas Wein oben auf der Bühne in leisem Gespräch darüber, was gleich passieren wird, möglicherweise diskutieren wir die eigentliche Richtung des Interviews, wie soll Ellen die Gewichte verteilen, es kann sein, dass wir uns darüber einigen, das Positive zu betonen, Möglichkeiten und Visionen für die Zukunft, und ihre Hände gestikulieren in der Luft, wie das ihre Angewohnheit ist, ich lächele zustimmend und nicke ab und zu.

      Himmel, ist das nicht Ulf Vågsvik da oben? Wer? Der, der mit Ellen Svendsen zusammen auf der Bühne steht? Der mit dem Weinglas? Ja, der soll


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